: Willkommen in Mudstock!
Ein Komplott der Gebeutelten ■ Aus Saugerties Thomas Groß
Woodstock occupied“ steht, mit Stacheldraht verziert, auf dem Lieblings-T-Shirt der Leute von Woodstock. So oft und so offensiv, wie es getragen wird, ist klar: Die hier haben Angst. Angst vor den Massen von Festivalbesuchern, die das kleine Städtchen am Rande der Catskill Mountains, das sowohl dem 69er Woodstock als auch seinem Revival nur den Namen geliehen hat, heimsuchen könnten. Eine paranoide Angst in diesem Fall: Wenig stört die putzige Holzhäuschenhaftigkeit Woodstocks an diesem ersten, dem inoffiziellen Festivaltag. Sogar im berühmten Tinker Street Café sind noch Plätze frei.
Nebenan in Saugerties hat man andere Sorgen. „Welcome to Woodstock 94 in Saugerties“, lautet die trotzige Antwort im Krieg der T-Shirts, die in schmucklosen Buden entlang der Straße feilgeboten werden. Der eigentliche Schauplatz des Revivals ist, obwohl nur neun Meilen entfernt gelegen, das genaue Gegenteil seines legendären Nachbarn. Wenn Woodstock für die über Jahre stark ins Kunstgewerbliche abgeglittene Idee vom alternativen Leben steht, ist Saugerties die Verkörperung des Durchschnittsamerika von heute: hohe Arbeitslosigkeit, Landflucht, Häuser mit klappernden Fliegengittern. In beträchtlicher Offenheit verhandelt das Lokalblatt, welchen Zugewinn Woodstock 94 mit sich bringen könne: für Saugerties, seine Bewohner, die Infrastruktur, aber auch für das idyllische Festivalgelände, das die Regierung zur Müllhalde umzufunktionieren gedenkt.
Die T-Shirts der eintreffenden Festivalbesucher scheinen von alldem jedoch überhaupt nichts wissen zu wollen. Sie sagen bloß „Aerosmith“, „Metallica“ oder „Nine Inch Nails“, gelegentlich einmal „Government sucks“. Zu Saugerties paßt immerhin, daß wirklich nichts auf eine gepflegte Memorialveranstaltung hinweist. Alte Hippies sind die absolute Ausnahme auf dem unübersichtlichen Gelände, es dominiert der Slacker-Typus in seiner jüngsten Ausformung, oft unter zwanzig, in knielangen Hosen und Sportswear. Beavisse und Buttheads sind in verschiedensten Schattierungen vorhanden, viele Ziegenbärte, eine hohe Anzahl von all-amerikanischen Burger-King-Körpern, aber auch viel muskelbepackte Surfertypen aus den Bodybuilding-Studios der Vorstädte. Jeder zweite trägt stolz seine Tätowierungen spazieren.
Von Anfang an ist von den so ausgiebig angedrohten Sicherheitsvorkehrungen wenig zu spüren. Woodstock 94, das ist zunächst einmal ein riesiges, planloses Zeltlager. In wilder Ordnung wird das Gelände mit Kuppeldächern überzogen, die bis an die zahlreichen Pepsi-, Eiscreme-, Hot-dog- und Unterhaltungselektronikstände heranwuchern. Kaum jemand interessiert sich für die paar lokalen und regionalen Bands, die am ersten Tag des Festivals auf der Mammutbühne die große Show proben.
Statt dessen wird irgendwo in der Menge unter großem Triumph ein salamidicker Joint entzündet, und gegen Abend tauchen, obwohl das Wetter gut ist, wie Wiedergänger aus dem Woodstock-Film die ersten dreckbekleckerten Figuren auf. Es geht das Gerücht, MTV habe eigens Schlamm herankarren lassen, um ein paar gute Takes zu bekommen, aber das ist mehr ein Scherz unter Journalisten, der den absoluten Willen dieser Leute zur Party noch nicht hinreichend zur Kenntnis genommen hat.
Die Zäune haben nämlich, zur Überraschung aller Berichterstatter, doch nicht gehalten. Schon am Morgen des zweiten Tages sind die Löcher unübersehbar, durch die palettenweise Bier und anderes hereingeschleppt wird. Eine Art Komplott der Gebeutelten und Unterbezahlten scheint im Gange zu sein mit den großenteils aus Saugerties rekrutierten Ordnern, die in ihren „Peace Patrol“-T- Shirts offensiv wegschauen, und wenig später ist es für viele wieder ein Free Concert. 350.000 (statt der vorgesehenen 250.000 und der 150.000 Ticketzahler) drängeln sich auf dem Gelände, es ist kaum Platz zum Stehen, und das Fernsehen kolportiert erstmals Gerüchte von drei Toten.
Währenddessen steht Joe Cocker auf der Bühne und liefert, von allem offenbar wenig beeindruckt, eine originalgetreue Rekonstruktion von „With A Little Help From My Friends“, den berühmten Schrei inklusive. Cypress Hill erkiffen sich durch offensiven Drogenkonsum auf der Bühne wenigstens etwas credibility, und Blind Melon spielen direkt im Anschluß daran eine etwas matte Version ihres Hits, der ironischerweise „No Rain“ heißt.
Es hilft ja auch nichts: Beim Auftritt der Henry Rollins Band beginnt es in Strömen zu regnen. In kürzester Zeit verwandelt sich die Wiese unter 700.000 Füßen in einen Sumpf; das Schlammbaden, bislang eine Angelegenheit einiger Avantgardisten, erfährt eine extreme Demokratisierung, und von da an kann jeder auf seine Weise teilhaben an einem Breakdown der Regeln, der wie eigens inszeniert wirkt, um all die Kritik an der Überplanung, Überorganisierung und Überkommerzialisierung des Festivals Lügen zu strafen. Ein klein wenig kann man sogar den Eindruck gewinnen, einer kalkulierten Neuauflage alter Mythen beizuwohnen.
Natürlich ist die Wirklichkeit prosaischer, wie ein Blick in den Backstage-Bereich lehrt: Kein Meta-Unvermögen dereguliert das Geschehen, sondern schlichte banale Planlosigkeit. Es kommt zu unschönen Szenen im Pressezelt, wo bulgarische Filmteams, für die rein gar nichts vorbereitet wurde, filmreif aufbegehren, während draußen die Sirenen heulen, Krankenwagen sich durch die Massen schieben und schwitzende Organisatoren auf Strandbuggy-ähnlichen Gefährten wie entfesselt durchs Areal brausen.
Später erklärt ein uniformierter Mann der Presse mit ernster Stimme anhand eines Lageplans die Probleme, und die Assoziation zu Norman Schwartzkopf im Golfkrieg ist absolut nicht zu vermeiden – mit dem Unterschied nur, daß hier eine Niederlage eingestanden werden muß und die aufgestellten Monitore keine Abschüsse zeigen, sondern Nine Inch Nails, die stumpfeste Band der westlichen Hemisphäre. Unter großem Theaterdonner und von Trockeneisnebeln umwallt, hauen sie das Equipment mit einem Furor in Stücke, gegen den selbst die Tankstellenwärterposen von Metallica wie der Gipfel weltmännischer Kulturisation wirken.
Doch es scheint niemanden zu stören, daß hier ein ziemlich altes Stück neu aufgelegt wird, schon gar nicht, als spät in der Nacht endlich Aerosmith die Bühne betreten und allen geben, was sie wollen: ein bißchen Headbanging, ein bißchen Heldentum...
Ein 16jähriger aus New Jersey, der mich meiner selbstgedrehten Zigaretten wegen für einen coolen Drogentypen hält, erklärt mir die Hitliste des Abends, die er und seine Freunde zusammengestellt haben: 1. Aerosmith, 2. The People, 3. Der Schlamm, 4. Drogen, 5. Sex, exakt in dieser Reihenfolge. Es klingt ziemlich nach Sex, Drugs and Rock 'n' Roll, bloß die Reihenfolge hat sich umgedreht, und der Schlamm ist hinzugekommen. Als Zugabe sozusagen.
Am nächsten Morgen berichtet das Fernsehen von sechs Toten, zwei davon offiziell bestätigt. Aber das alles scheint höchstens ein Fall für die Statistik zu sein, denn schon geht es weiter mit der Party: Arrested Development spielen, die Neo-Punks Green Day, die antiken Allmann Brothers. Die frisch restaurierten Traffic geben eine routinierte Show ab, aber alles wartet auf die jüngeren Bands: Spin Doctors, die hippiehafte Botschaften verbreiten, und Porno for Pyros, deren Sänger Perry Farrell sich seinem Publikum mit einem dyonysisch gemeinten, aber objektiv Roncalli-haften Rocktheater als zweiter Jim Morrison anzudienen versucht. Mich ekelt das ein bißchen, aber ich scheine der einzige im Umkreis von mehreren hundert Metern zu sein, dem es so geht.
„Welcome to Mudstock 94“, verkündet ein Transparent in der Menge, und es ist absolut nicht ironisch oder kulturkritisch gemeint. Mit unverminderter Intensität geht das Schlammbaden weiter, auch wenn es nichts weiter mehr zu symbolisieren scheint: nicht die unterdrückte Analität der Elterngeneration, nicht den kreativen Tabubruch, keine utopischen Umdeutungen der Scheiße im Sinne von „We are stardust, we are golden“. Der Schlamm bleibt der Schlamm bleibt der Schlamm; es wird nur merklich kühler, und viele sind inzwischen dem Kollaps nahe.
Doch gerade das entzieht das 94er Woodstock letztlich seiner Ideologisierung. Mühsam nur erheben sich die Botschaften von Völkerverständigung, Müllrecycling und Friedensliebe, die die T-Shirts im „Öko-Dorf“ inmitten des Geländes verkünden, über die Anarchie entfesselter Teenager- Bedürfnisse. Woodstock 94 sind keineswegs die „2 More Days Of Peace & Music“, die das Plakat angekündigt hat, sondern ein kollektives Freak Out, ein Jugendirresein, das, wie der Ursprung des Rock 'n' Roll selbst, keinem verbindlichen Sinn zuzuordnen ist – es sei denn, er heißt „Fun“.
„If you don't like to have fun, this is the wrong place to be“, verkündet ein Plakat im Zelt von Apple Computers, wo mit großem Aufwand für interaktive CDs geworben wird, und das klingt am Ende auch drohend. Wie alle Ventilsitten hat dieser Rock-Karneval von Woodstock etwas ungeheuer Ritualisiertes, Begrenztes und Ordnungstiftendes.
Nach dem Auftritt von Bob Dylan, der wie immer eigenartige Versionen seiner Klassiker in den sich aufklärenden Abendhimmel hinauskrächzt, nach dem finalen Exzeß mit den Red Hot Chili Peppers und Peter Gabriel, pilgert alles im wesentlichen brav nach Hause, um später vielleicht einen Apple Computer zu kaufen oder auch nur mit Pepsi bei der Stange zu bleiben.
Das letzte, was ich von Woodstock sehe, ist ein T-Shirt am Körper eines mageren, restlos erschöpft wirkenden Slackers: „Woodstock 94 – I got my brain tuned“. Im Verschwinden betrachtet, wirkt es sehr wahr.
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