: König Hassan II. spielt auf Zeit
Werden die BewohnerInnen der von Marokko besetzten Westsahara tatsächlich Anfang 1995 darüber abstimmen dürfen, ob sie Unabhängigkeit oder marokkanische Herrschaft wollen? ■ Von Thomas Dreger
Not kann erfinderisch machen, Verzweiflung manchmal genial: Anfang Juni stutzten Computer- User in Marokko, als sie in einem dort verbreiteten Graphikprogramm eine Karte Afrikas aufriefen. Auf ihren Bildschirmen erschien das maghrebinische Königreich um ein gutes Drittel kleiner als auf staatlichen Karten verzeichnet. Ein Computervirus hatte die seit 1975 größtenteils marokkanisch besetzte Westsahara kurzerhand für unabhängig erklärt.
Die Regierung in Rabat rief sofort alle Unternehmen des Landes auf, den Eindringling in ihren PCs zu eliminieren – schließlich bestritt der von Unbekannten eingeschleuste Virus, was Marokkos König Hassan II. praktisch zur Staatsdoktrin erklärt hat: die „Marokkanität“ der ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara.
Im südwestalgerischen Tindouf wird man sich über die Nachricht gefreut haben, gibt es doch sonst wenig Anlaß zu Heiterkeit. In dem unwirtlichen Wüstenstädtchen residiert die Regierung der „Demokratischen Arabischen Republik Westsahara“ (DARS), ein von der Befreiungsbewegung Polisario ins Leben gerufenes Kabinett ohne eigenen Staat. Und außerhalb der Computerrealität sieht es nicht so aus, als ob der Kampf für die Unabhängigkeit der Sahraouis – der BewohnerInnen der Westsahara – zum Erfolg führen wird.
Eigentlich hätte in dem rohstoffreichen, mit fischreichen Gewässern vor der Küste gesegneten Wüstenstreifen zwischen Marokko und Mauretanien bereits im Januar 1992 ein Referendum stattfinden sollen. Unter internationaler Aufsicht sollten die Sahraouis auf die Frage antworten: „Wünschen Sie den Anschluß an Marokko oder die Unabhängigkeit?“ Doch die im Friedensplan vom April 1991 vorgesehene Volksbefragung, die nach sechzehn Jahren Krieg vom UN-Sicherheitsrat beschlossen worden war, wurde immer wieder verschoben. Anfang August schließlich legte der Sicherheitsrat den Abstimmungstermin auf den 14. Februar 1995. – In- Scha-Allah.
Der Friedensplan – ursprünglich ein Gemeinschaftswerk von UNO und der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) – sieht vor, daß bei der Feststellung, welche Sahraouis zur Abstimmung berechtigt sind, auch Beobachter der OAU dabei sind. Anders als die UNO hat die OAU die 1976 proklamierte „Demokratische Arabische Republik Westsahara“ als Mitgliedsstaat aufgenommen. Daraufhin kündigte ein pikierter König Hassan II. Marokkos Mitgliedschaft in der OAU.
Wer darf sich Sahraoui nennen?
Als eine von der UNO bestimmte Kommission Anfang Juni dieses Jahres damit beginnen sollte, WählerInnenlisten aufzustellen, machte die marokkanische Führung klar, daß sie mit der Beteiligung der OAU-Beobachter nicht einverstanden war. Nach Meinung der Polisario geht es in Wahrheit um etwas anderes: König Hassan II. will Zeit gewinnen, um im besetzten Teil der Westsahara – rund 80 Prozent – dafür zu sorgen, daß sich eine deutliche Mehrheit für den Anschluß an sein Reich ausspricht. Für die Stichhaltigkeit dieser Sorge spricht, daß Anfang Juni rund 100 Busse aus Marokko im sahraouischen Boujdour und al- Ayoun, der Hauptstadt der Westsahara, angekommen waren, aus denen mehrere tausend Personen kletterten, die sich als derzeit in Marokko lebende Sahraouis ausgaben und keinen Hehl aus ihrer königstreuen Gesinnung machten. Viele Sahraouis fürchten, Hassan II. könnte es gelingen, das Referendum durch Veränderung der Demographie der Westsahara für sich zu entscheiden.
Ursprünglich hatte die Polisario – in Übereinstimmung mit dem UN-Friedensplan – gefordert, daß nur solche Personen über die Zukunft des Gebietes entscheiden dürfen, die 1974 beim letzten Zensus der spanischen Kolonialherren als Bewohner der Westsahara registriert wurden. Unter den damals erfaßten rund 74.000 Sahraouis rechnete sich die Polisario eine klare Mehrheit für die Unabhängigkeit aus. Hassan II setzt dagegen auf eine rigorose Erweiterung des Kreises der Abstimmungsberechtigten: Erst forderte er die Beteiligung von rund 120.000 Menschen, die er seit dem spanischen Abzug 1975 in der Westsahara hatte ansiedeln lassen. Sein Innenminister Idriss Basri erklärte im Juni, eigentlich gebe es 1,5 Millionen Sahraouis.
Unter Druck der UNO ist man in Tindouf mittlerweile bereit, auch solche Personen als Sahraouis zu akzeptieren, die 1974 nicht registriert wurden; vorausgesetzt, sie waren am 31. Dezember 1993 mindestens 18 Jahre alt und können nachweisen, daß sie zu einem Stamm gehören, der seinen Siedlungsschwerpunkt in der Westsahara hat, und entweder acht Jahre ohne Unterbrechung in dem Gebiet gelebt haben oder zwölf Jahre mit Unterbrechung.
Als der UN-Sicherheitsrat am 1. August die erneute Verschiebung des Referendums beschloß, hatten 75.000 Menschen diesen Status für sich geltend gemacht und Anträge auf Aufnahme in das Wahlregister gestellt. Entsprechende Formulare wurden von den in der Westsahara und Tindouf stationierten 268 UN- Mitarbeitern seit November 1993 verteilt. Allerdings nicht direkt an die AntragstellerInnen, sondern an die marokkanischen Behörden und die Polisario, die die Formulare weitergeben sollen.
Die aus Ethnologen und anderen Experten aus den USA, Europa und Lateinamerika bestehende Kommission entscheidet, wer abstimmen darf und wer nicht. Daneben sollen bei der Identifizierung Beobachter der beiden Konfliktparteien dabeisein, die umstrittenen OAU-Observateure und von beiden Seiten bestimmte Stammesvertreter. Nach den Regeln der UNO handelt es sich bei diesen „Schuyuch“ (Plural von „Scheich“) um traditionelle Notabeln der Stämme. Sahraouis behaupten, bereits die ersten zwei von Marokko benannten „Schuyuch“ seien Mitarbeiter des marokkanischen Geheimdienstes.
Über den genauen Zeitplan bis zum Referendum will der UN-Sicherheitsrat entscheiden, wenn Butros Butros Ghali in den nächsten Wochen einen detaillierten Bericht vorlegt. Darin wird er auch den Stand der Finanzen der Minurso – der UN-Mission in der Westsahara – offenlegen müssen. Die 1991 vom UN-Sicherheitsrat in Zusammenhang mit dem Friedensplan bewilligten 200 Millionen US-Dollar sind längst aufgebraucht. Im vergangenen Jahr kostete die Minurso monatlich 3,1 Millionen US-Dollar, und die Kosten steigen, je konkreter die Vorbereitungen für das Referendum werden. Angesichts der ungewissen Zukunft der Westsahara hat die britische Regierung ihr UN- Kontingent bereits aus der Region zurückbeordert. Australien, die Schweiz und Kanada kündigten im Frühjahr an, ihre Landsleute im Juni heimzuholen, machten dies aber bislang nicht wahr.
Falls sich Polisario und Marokko weiterhin nicht darauf verständigen können, welche Personen am Referendum teilnehmen dürfen, muß der Sicherheitsrat laut Butros Ghali entscheiden, „ob die Registrierung und Identifizierung ausgesetzt wird, unter Beibehaltung einer reduzierten militärischen Präsenz der UNO, um die Einhaltung des Waffenstillstands zu gewährleisten“. – Das würde die UNO monatlich 617.000 US-Dollar kosten.
Für den Fall, daß kein Referendum über die Zukunft der Westsahara absehbar ist, hat die Polisario angekündigt, wieder zu den Waffen zu greifen.
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