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Fliegende Ohren

■ Unterwegs mit der Blauen Karawane von Leipzig nach Bremen / Zweite Lieferung: Von Torgau bis Wittenberg

Donnerstag, 18.8.1994, mit der Blauen Karawane in der „Lutherstadt“ Wittenberg an der Elbe.

Keiner ist schneller als das Blaue Kamel! Als die Blaue Karawane, bestehend aus dem schwimmenden Kamel „Wüna“, der kleinen Bremer Fähre „Punke“ und dem Magdeburger Ausflugsdampfer „Wolfenburg“, gestern morgen in Torgau ablegte, jubelten die Zuschauer: Mit gestrecktem Hals und fliegenden Ohren raste das Trampeltier davon, getrieben von zwei Außenbordern mit je 20 PS. Bei strahlender Sonne begann der wässerige Teil der Karawane. Denn noch 600 Kilometer sind es bis Bremen. Erstes Teilstück ist Wittenberg: 60 Kilometer.

Durch einsames Land schlängelt sich die Elbe. Störche und Schafe reagieren nicht auf die ungewöhnliche Erscheinung auf dem Fluß. Klaus Prahmann, Organisator (Primus inter pares der Karawane), steht wie eine Erscheinung an jedem zweiten Anleger und winkt. Er kontrolliert das Unternehmen aus dem Pkw. Sobald am Ufer Menschen sichtbar sind, erhebt sich an Bord der „Wolfenburg“ das große Getöse von „Lauter Blech“. Während sich die Besatzung des Kamels in der Sonne lümmelt, erlebt sie plötzlich den Terror der neuen Kommunikationstechnik: „Ich rufe für's ZDF an.“ Der Kamelkapitän ist Dieter Strathmann, Vorsitzender des „Hal över“-Vereins (Schiffe, Cafe Sand), ein Mann kurz vor dem Binnenschifferpatent. Er lobt die Fahreigenschaften des geprüften „Sportboots“. Er hatte einen Traum: Einmal mit dem Zirkus reisen.

Also ein Zirkus, die Blaue Karawane? Etliche haben kleinen Sonnenbrand und großen Hunger, als der Treck endlich, gegen vier Uhr, in Wittenberg festmacht. Wittenbergs Empfang ist allerdings durchaus unfreundlich. Ein dicker Mann im bunten Hemd, lokaler Vertreter der Köln-Düsseldorfer Dampferflotte, untersagt die Benutzung des Anlegers. Ihm fehlt eine eindeutige Direktive. Für einen Moment kommen in der Karawane Boat-people-Gefühle auf. Hektische Telefonate quer durch die Republik und 500 Mark Bares erweichen den Mann. Der Zeitplan ist allerdings durcheinander.

Hunger, Durst, Müdigkeit von durchfeierter letzter Nacht, ein unglaubliches Chaos mit dem Gepäck und ein dicker Stau in Wittenberg-City – man beginnt zu ahnen, was für ein logistisches Problem es ist, 70 Leute für mehrere Wochen in der Fremde umherziehen zu lassen. Inklusive Kindern, Behinderten und Alten. Eine neue Behinderte ist Dienstag abend hinzugekommen, Petra, eine temperamentvolle Teufelin aus „Fast Faust“, hat sich nächtens den Fuß gebrochen und wird im Rollstuhl bewegt. Ihre einzige Sorge: „Kann ich weiter bei 'Fast Faust' mitspielen?“ Eventuell im schwarzen Rollstuhl.

Die Wittenberger Jugendherberge liegt ausgesprochen idyllisch. Die Herbergsmutter versucht noch eine Zeit lang, ihre gewohnte Ordnung aufrechtzuerhalten (“Das sind reine Mädchenzimmer!“), unterliegt indes der geballten Präsenz der Karawane. Im Schlafsaal zumindest sind die meisten Grenzen nämlich schon obsolet. Für manche ist es zuviel, aber der offizielle Empfang der Karawane durch die Stadt muß noch absolviert werden, also weiter, die Musik ruft. Der müde Haufen mit Kamel schleppt sich zum Markplatz, im Gefolge eine fröhliche Wittenberger Kinderschar. Auf dem Marktplatz laufen dann doch tatsächlich noch ein paar handvoll Wittenberger zusammen, Zwischen Luther und Melanchthon richtet Klaus Prahmann in Halbmaske seine immer gleichen Worte ans Volk: „Dürfen wir hierblieben? Gibt's hier auch was zu essen?“ Er wendet die Sprache seiner Patienten an, deren Zunge durch viele Medikamente schwer zu kontrollieren ist. Ein Spiel, das die Vertreter des Bürgermeisters, der meistens Termindruck hat, in eine komische Not bringt.

Hier treten sich ein Dutzend Fotografen und das Team von Radio Bremen auf die Zehen: Endlich wieder Kontakt zwischen Karawane und Ausgegrenzten.

Burkhard Straßmann /

Foto: Katja Heddinga.

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