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Faktische „AusländerInnen“

Interview mit dem Dozenten und Vorsitzenden des Kulturrats der Deutschen aus Rußland (KDR) über die schwierige Integration der rußlanddeutschen Aussiedler im „gelobten Land“  ■ Von Franco Foraci

taz: Herr Wiens, sind die in die Bundesrepublik einwandernden Rußlanddeutschen im „gelobten Land“ willkommen?

Herbert Wiens: Leider ist das noch nicht überall der Fall. Auf der politischen Ebene können wir uns überhaupt nicht beklagen. Offiziell, von der Regierungsseite her, begegnet man den Rußlanddeutschen so selbstverständlich wie jedem anderen Deutschen. Verschiedene Institutionen, karitative Organisationen und Einzelpersonen engagieren sich für die Aussiedler. Aber die große Mehrheit in der Öffentlichkeit betrachtet die Aussiedler als Ausländer. Mit diesem Vorurteil haben wir ewig zu kämpfen. Die Ausländer kommen ja aus ganz anderen Gründen in die Bundesrepublik.

Aber faktisch sind sie doch „Ausländer“. Die allermeisten der jährlich etwa 200.000 Rußlanddeutschen, die in die Bundesrepublik emigrieren, kennen kein einziges deutsches Wort. Sie leiten ihr Deutschsein lediglich aus einer alten Geburtenkette ab. Warum erstaunt Sie die Reaktion der Leute?

Es ist sehr verständlich, daß die Leute erst einmal mit mehr oder weniger Ablehnung reagieren. Wenige sind darüber informiert, warum die Aussiedler ihre angestammten Regionen in der ehemaligen Sowjetunion verlassen. Viele glauben, das habe nur mit wirtschaftlichen Hoffnungen zu tun. Das ist einfach falsch. Diese Menschen wandern in die Bundesrepublik ein, weil sie ihre deutschen Wurzeln hier leben wollen und sich zur deutschen Identität bekennen. Ihr vorrangiges Ziel ist es, endlich als Deutsche unter Deutschen zu sein. Der Grundgesetzartikel 116, Absatz 1, gibt ihnen das Recht. Sie wollen sich in Deutschland niederlassen, weil sie sich nie als Russen oder Kasachen oder sonst etwas gefühlt haben, sondern stets als eine ethnische Minderheit. Ihre Distanz zu Deutschland war immer nur eine territoriale, weniger eine mentale oder gar kulturelle. Verwandte, Freunde und Berufskollegen, jahrelang erarbeitetes und erspartes Eigentum – Haus, Wohnungseinrichtung, Auto – läßt man nicht einfach so zurück.

Daß die hier lebenden Rußlanddeutschen weiterhin so genannt werden oder als „russische Deutsche“ gelten, deutet trotzdem auf eine klare Ausgrenzung hin. Befinden sich in die „Heimat“ emigrierte Spätaussiedler nicht in einer Art kultureller Schwebezustand?

Für alle Rußlanddeutschen, die sich bei jeder Volkszählung als Deutsche bezeichnet haben, war das Deutschtum die einzige und richtige Identität – auch wenn sie die deutsche Sprache seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr lernen durften. Stalin hat sie mit der Vertreibung der Deutschen aus ihren Gebieten verboten. Vor 1938 gab es in den deutschen Kolonien in der ganzen ehemaligen UdSSR deutsche Schulen. Danach durfte deutsch höchstens als Fremdsprache studiert werden. Das heißt, wer 1932 geboren wurde, der hat bis heute keinen ordentlichen Deutschunterricht mehr erhalten. Also sprechen die älteren Aussiedler den überlieferten Dialekt oder die jüngeren eben nur Russisch. Aber alle haben bestimmte deutsche Werte, deutsche Sitten und Gebräuche gepflegt und internalisiert, von denen viele hier nicht überlebt haben. Die Schwierigkeiten ihrer vollständigen Integration und Akkulturation ergeben sich mehr hieraus.

Sind den Aussiedlern die Deutschen zu modern?

Nun ja, sie bringen Wertvorstellungen mit, die in unserer Wohlstandsgesellschaft teilweise stark in den Hintergrund getreten sind. Sie mögen etwas altbacken und rückständig sein, aber sie machen die über zwei Jahrhunderte bewahrte ethnologische Besonderheit der Deutschen aus Rußland aus: tiefe Religiosität, ausgeprägten Solidaritätssinn in der Großfamilie, Bereitschaft zur Nachbarschaftshilfe, Genügsamkeit, Fleiß und andere. Was sie hier zuerst mitbekommen ist Riesenhektik, familiäre Egoismen, die Menschen leben nicht in Großfamilien, und am Arbeitsplatz wird man nicht so freundlich behandelt, wie man es erwartet. Sie vermissen das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen. Früher bekamen sie für jede Leistung irgendeinen Orden. Man wurde gelobt. Wer klopft heute schon seinem Arbeitnehmer im Betrieb auf die Schulter, auch wenn er tüchtig ist? Das erleben die Rußlanddeutschen als absolutes Negativum. So fällt es ihnen – trotz großer Integrationswilligkeit – in der Tat schwer, die Eigenarten der modernen deutschen Gesellschaft bis in letzter Konsequenz zu akzeptieren. Der Kulturschock geht sogar so weit, daß Rußlanddeutsche oft ihre Kinder wegen der Sexualerziehung vom Biologieunterricht nehmen. Die Offenheit im Umgang der Geschlechter untereinander und die aufgeklärte Rollenverteilung zwischen Mann und Frau lehnen viele ab. Sie streben zwar rasche Akkulturation an, wehren sich aber gegen von Ungeduld getragene Einschmelzung.

Dieser Punkt unterscheidet sie kaum von vielen MigrantInnen ...

Sicher, man kann da Parallelen ziehen. Anders als Flüchtlinge und Ausländer wollen die Aussiedler sich aber so schnell wie möglich integrieren. Sie kommen nicht nur als Nehmer, sie bringen längst vergessenen deutschen Kulturbesitz mit.

Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis die ethnischen Grenzen zwischen Rußlanddeutschen und Bundesdeutschen verschwommen sein werden?

Ich schätze, daß die rußlanddeutsche Aussiedlung noch einige Zeit anhalten wird. Vielleicht ein Jahrzehnt. Nicht alle der rund zwei Millionen in der einstigen Sowjetunion noch lebenden Deutschen werden emigrieren wollen, aber mehrere hunderttausend auf jeden Fall. Aber die Akkulturation der rußlanddeutschen Aussiedler in der Bundesrepublik kann noch zwei bis drei Generationen dauern.

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