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Von der Kanzel gegen den Kanzler

■ Kirchen mit Sozialthesen unfreiwillig im Wahlkampf

Bonn (dpa/taz) – Zwei Monate vor der Bundestagswahl sorgt ein gemeinsames Papier der katholischen und evangelischen Kirchen zur Sozialpolitik in Bonn für Wirbel. Die durch eine Indiskretion vorzeitig veröffentlichte Kritik ist massiv – und liest sich wie eine Abrechnung mit der zwölfjährigen Ära Kohl sowie der Vereinigungspolitik des Kanzlers. Laut Papier haben der Einigungsprozeß und die Regelung der Eigentumsverhältnisse für die OstlerInnen „viel Bitteres und Enttäuschung“ gebracht. „Der hoffnungsvolle Aufbruch endete für viele Hunderttausende in einem Abbruch und in Arbeitslosigkeit.“ Das habe zu einer „Identitätskrise“ und einem „Kulturschock“ im Osten geführt: „Die Politik nimmt diese Bewegungen und Empfindungen in den Tiefenschichten vielfach nicht wahr.“

Die Veröffentlichung des Papiers, das eigentlich erst nach der Bundestagswahl im Oktober erscheinen sollte, wurde nun auf den Sommer 1995 verschoben. Wie es weiter in den von der Westfälischen Rundschau verbreiteten Thesen heißt, stelle die „Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer das bisher anerkannte Leitbild der sozialen Marktwirtschaft in Frage“. Die Massenarbeitslosigkeit markiere einen „tiefen Riß in unserer Gesellschaft“. Innerhalb eines Jahrzehnts habe sich die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen mehr als verdoppelt. Heutzutage lebten 150.000 Obdachlose auf der Straße und 800.000 in Notunterkünften. 500.000 Kinder wüchsen in Obdachlosenheimen auf.

Verbitterung und Resignation könnten, so das Papier, „Wasser auf die Mühlen der politisch Unberechenbaren, Gewaltbereiten und Fremdenfeindlichen sein“.

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