: Surreale Normalität von oben
■ In den kubanischen Medien kommt die neue US-Politik kaum vor
Havanna (taz) – Während Clintons drastische Verschärfung des Embargos und Drohungen bis hin zur „totalen Seeblockade“ die Schlagzeilen der Weltpresse machen, simuliert Kubas politische Führung Normalität. Weder hält Fidel Castro eine donnernde Rede, noch ruft die KP zu Demonstrationen auf. Mehr noch: Aus den staatlichen Medien erfahren die Menschen auf der Insel von all dem nur sehr vage. Denn von oben werden Informationen präsentiert, die in der gegenwärtigen Situation schlichtweg surreal sind.
So zeigten die 20-Uhr-Nachrichten des staatlichen Fernsehens am Montag abend als Top-News allen Ernstes: 1. Der Premierminister von Namibia ist in Havanna eingetroffen und absolviert ein umfangreiches Besuchsprogramm. 2. In der Provinz Los Tunas wird in einem großen Agroindustriekomplex die kommende Zuckerrohrernte vorbereitet; die dortigen Arbeiter haben 15 Tage Urlaub geopfert, um höhere Erträge zu erbringen. 3. Ende August wird in Havanna, weil der Sommer zu Ende geht, ein großes Kinderfest stattfinden. Dann irgendwann, nach fast 10 Minuten Sendezeit: Die USA bringen kubanische Bootsflüchtlinge nicht mehr nur nach Guantánamo, sondern auch auf britische Karibikinseln und nach Surinam. Und: Viele Zeitungen in aller Welt haben die jüngste Verhärtung der US-Politik verurteilt. Es folgen Zitate aus der Neuen Osnabrücker Zeitung, der Schwäbischen Zeitung und dem Münchner Merkur, unterlegt mit alten Archivbildern aus der DDR – nichts Näheres zur US-Politik selbst. Es geht weiter mit Ruanda, Ägypten, Bosnien. Nach einer halben Stunde dann „Hier noch einmal die wichtigsten Meldungen des Tages“: Der Premierminister von Namibia, die Vorbereitungen auf die Zuckerrohrernte – und das Kinderfest.
Mehr als die unübersehbare Polizeipräsenz in den Straßen der Hauptstadt Havanna zeigt diese (Nicht-)Reaktion des Staates, wie bedrohlich die kubanische Führung die gegenwärtige Situation einschätzt, wie explosiv ihr die Stimmungslage in der Bevölkerung scheint. Das, was die kubanischen Soziologen den „passiven Konsens“ der großen Mehrheit des Volkes nannten, bricht unübersehbar auf. Die Flucht von Tausenden ist eine massive Warnung. Und die meisten der 500 Kubaner, die vor gut einer Woche im Hafen von Mariel einen Tanker enterten, um zu fliehen, kamen direkt von einer Großkundgebung, auf der sie alle noch brav „Viva Fidel!“ geschrien hatten. So sind die Kader der KP und die zuverlässig organisierte Gefolgschaft des Systems in Alarmbereitschaft versetzt worden, um etwaige Unruhen im Keim zu ersticken. Für sie erlebt Kuba im Augenblick eine kriegsähnliche Konfrontation, bei der es um das Überleben der Revolution geht. Dem breiten Volk präsentiert die Regierung zur Zeit das Gegenteil: Alltag und Ablenkung, soviel es geht. Jede Aufregung ist zu vermeiden. Thomas Rahn
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