: Von weißen Laken und roten Fahnen
■ Von Beginn an war das Märkische Viertel Schauplatz sozialer und politischer Auseinandersetzungen / Heute hingegen ist fast die Hälfte der Mieter Fehlbeleger
Rote Fahnen auf den Straßen und an den Fenstern das Symbol für die Forderung nach Mietstopp: weiße Bettlaken. Zu Beginn der siebziger Jahre war das „Märkische Viertel“ umkämpftes Territorium. Insbesondere Studenten aus den Innenstadtbezirken hatten sich das „MV“ als Ort ihrer politischen Betätigung auserkoren, druckten in Kellern Mieterzeitungen gegen willkürliche Mieterhöhungen der GeSoBau oder besetzten im Rahmen ihrer „Randgruppenarbeit“ mit Jugendlichen leere Erdgeschoßräume als selbstverwaltete Jugendzentren. Am Märkischen Viertel, beklagte sich ein damaliger Beobachter, „hielten Ideologen der ihnen verhaßten Gesellschaft alle ihre vermeintlichen Gebrechen vor“.
Jene Gesellschaft hatte es freilich nicht besser verdient. Als am Dannenwalder Weg im August 1964 die ersten von später einmal 17.000 Wohnungen bezogen wurden, wütete im südlichen Wedding, dem damals größten Sanierungsgebiet Europas, die Abrißbirne. Doch nicht nur vom „Gesundbrunnen“, auch aus Kreuzberg, wo die Kahlschlagsanierung erst zu Beginn der siebziger Jahre gestoppt werden konnte, kam der Großteil der „Neumärker“: aus einer sozial gewachsenen Umgebung in ein anonymes Wohnghetto. Als wohl „deprimierendste Frucht freischaffender und bürokratischer Bautechnokratie“ bezeichnete das Allgemeine Deutsche Sonntagsblatt die Wohnrealität, und selbst die FAZ mußte anfangs konstatieren, daß einiges gefährlich nach Slums aussehe.
Dabei waren es gerade die „grünen Slums“ im Norden Reinickendorfs, denen man durch das „Sanierungsgebiet Märkisches Viertel“ Herr werden wollte. Bis dahin war das Gebiet die größte „wilde“ Laubenkolonie im Norden Berlins, eine Mischung aus Datschen, Holzhütten und Einfamilienhäusern, in denen bereits nach dem Ersten Weltkrieg Obdachlose Zuflucht gefunden hatten. Eine städtebauliche Entwicklung scheiterte während der Weimarer Republik an der Weltwirtschaftskrise. Der Plan der Nazis, die „Nord-Süd- Achse“ in hundert Metern Breite durch das Gebiet zu führen, wurde mit Kriegsbeginn aufgegeben. Am Ende blieb das Viertel, was es war, eine Zuflucht für Ausgebombte und Flüchtlinge.
Aufgrund eines Gutachtens der „Sozialgeographischen Karten Wilhelmsruh“, das aufgrund des hohen Grundwasserstandes einen überdurchschnittlichen Anteil an Rheuma- und Tuberkulose-Erkrankungen festgestellt hatte, wurde im Senat 1960 mit den städtebaulichen Planungen für das Märkische Viertel und 1963 mit dem ersten Spatenstich begonnen. Doch erst vier Jahre später, fast 3.000 Wohnungen waren bereits bezogen, wurde das Hauptgeschäftszentrum „Märkisches Zentrum“ eröffnet. 20 Geschäfte, zwei Schulen mit insgesamt 40 Klassen, zwei Kindertagesstätten und zwei Waschhäuser für über 10.000 Bewohner. Die „vermeintlichen Gebrechen der Gesellschaft“ forderten Gewalt und Vandalismus geradezu heraus.
Heute will man davon nichts mehr wissen. Die Wohnungsbaugesellschaft gibt sich als Dienstleistungsbetrieb und schult ihre Mitarbeiter in Bürgernähe. Anzeigenblätter und Beilagen der GeSoBau haben die linken Mieterzeitungen aus den siebziger Jahren abgelöst. In das vormalige soziale Ghetto ist ein gewisser Wohlstand eingekehrt. 41 Prozent der Familien liegen bereits über den Einkommensgrenzen für den sozialen Wohnungsbau und müssen eine Fehlbelegungsabgabe entrichten. Ins Einkaufszentrum, das „Märkische Zentrum“, und zum Wochenmarkt kommen neuerdings auch Anwohner aus den umliegenden Stadtteilen, und das Bezirksamt Reinickendorf bemerkt nicht ohne Stolz, daß die Mehrzahl der Jugendeinrichtungen des Bezirks mittlerweile im Märkischen Viertel zu finden sind. Uwe Rada
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