Der Teufel, der geliebt werden will

Eine Schweigeminute am Grab seines 1956 ermordeten Amtskollegen lehnte er ab – Gyula Horn, Ministerpräsident in Ungarn, hält historische Entschuldigungen für überflüssig  ■ Aus Budapest Keno Verseck

Ja, ein roter Teufel sei er, erklärt Gyula Horn. Dabei klingt der Ton, den er anschlägt, halb verletzt, halb ironisch, wie so oft. Wenn die Vorwürfe nicht verstummen würden, dann sei er eben ein roter Teufel. Die Journalisten lachen über Gyula Horns Worte, seine Anhänger klatschen.

Der Vorsitzende der Sozialisten bleibt ernst. Seine Augen sind müde. Er, der den Eisernen Vorhang zerschnitten hat, ist verletzt und kann den Verletzten spielen, ohne seine Würde zu verlieren. Wie immer unterbricht er den Beifall und verzeiht seinen nicht anwesenden Feinden: „Und nun wollen wir nicht länger ideologisieren.“ Wieder Klatschen. – Eine Episode aus der Wahlnacht Ende Mai. Soeben hatten die Sozialisten von ihrem Wahlsieg erfahren.

Noch vor einigen Jahren hätte der ehemalige Kommunist beteuert, daß, wie und warum er sich geändert habe. Heute, als demokratisch gewählter Ministerpräsident, reagiert er auf Fragen nach seiner Vergangenheit selbstbewußt, spöttisch oder verärgert. Und gibt doch mit zweifelhaften Scherzen selbst Anlaß zu Fragen. Wie etwa, als er vor laufenden Kameras die Parteidelegierten mit „Genossen!“ anredete. Diese – ehemaligen – Genossen hatten ihn soeben zum Kandidaten in das Amt des Ministerpräsidenten gewählt.

Horn macht es seinen Feinden schwer und wohlgesonnenen Kritikern nicht leicht. Der 63jährige hat über seine Vergangenheit nichts berichtet, was ihn unmöglich machen könnte. Um so mehr erzählt er von sich, was ihn als friedlichen Reformer und einsichtigen Menschen erscheinen läßt. Aufgewachsen ist er im Budapester Arbeiterviertel Engelsfeld, mit seinen Eltern und sechs Brüdern in einem Zimmer mit Küche. Die Gestapo ermordete 1944 seinen Vater, der im kommunistischen Widerstand gekämpft hatte. Mit elf Jahren begann der schwächliche Junge seine Arbeit in einer Kartonfabrik. Abends besuchte er die Mittelschule. Im kommunistischen Jugendverband fiel er nach dem Krieg als klug auf, holte das Fachabitur binnen eines Jahres nach, wurde in die Sowjetunion delegiert, studierte dort Ökonomie. Nach seiner Rückkehr trat er in die Partei ein.

Während der Revolution 1956 diente er zunächst in der Nationalwache, am 15. Dezember 1956 wurde er zu den Milizionärstruppen eingezogen, die Aufständische verhaften und erschießen. Das war einen Tag, nachdem Aufständische seinen ältesten Bruder gelyncht hatten, weil er Kommunist gewesen war. Rachegefühle seien deshalb nicht in ihm aufgekommen, nie habe er jemanden mit dem Finger angerührt, lautete früher Horns Standardantwort auf Fragen über die Ermordung des Bruders und seine eigene Milizionärszeit. Heute schweigt der Ministerpräsident. Hakt jemand nach, kommt es vor, daß Horn das Interview abbricht.

Unlängst bat ihn die Tochter Imre Nagys, des ermordeten Ministerpräsidenten der Revolution von 1956, mit ihr zusammen eine Schweigeminute am Grab ihres Vaters einzulegen, als versöhnende Geste. Horn schwieg auch danach. Historische Entschuldigungen hält er für überflüssig. Lieber erzählt er von der Zeit nach der Revolution – für Horn der Beginn einer Karriere als Außenpolitiker. Im Mai 1989 wurde er nach dreißig aktiven Jahren als Außenpolitiker Außenminister der letzten kommunistischen ungarischen Regierung.

In seinen Memoiren zitiert er kritische Fragen, die er dem sanften Diktator Kadar schon Anfang der siebziger Jahre gestellt habe. Was er nicht zitiert, sind seine Artikel, in denen er die Überlegenheit des Sozialismus rühmt. Dabei gehorchte auch er, wie jeder Hilfsarbeiter und jedes Politbüromitglied in Ungarn, jahrzehntelang dem Grundsatz des „Gulaschkommunismus“, der öffentlich Wasser verordnete und heimlich Wein gestattete. Bis er im September 1989 eine folgenreiche Entscheidung traf, für Ungarn und Osteuropa: Er ließ die Grenze nach Österreich für DDR- Flüchtlinge öffnen.

Es sei die schwerste Entscheidung seines Lebens gewesen, sagt Horn und meint zugleich, es habe keine andere Möglichkeit gegeben. Fügte er sich schweren Herzens dem Lauf der Geschichte, oder wuchs er zum ersten Mal über die Geschichte hinaus, die ihn sein Leben lang hinter sich hergezogen hatte? Jedenfalls – diese Entscheidung macht seine Glaubwürdigkeit aus. An dieser Glaubwürdigkeit aber zehrt seine Politik. Als Regierungschef etwa verspricht er Wirtschaftsreformen und kritisiert dieselben hinterher. Eine Politik, die seiner Popularität schade, könne er nicht verantworten, sagt Horn.

Doch das ist vielleicht das einzige, was ihn berechenbarer macht: Er möchte geliebt werden. Unberechenbar ist er in seinem Ehrgeiz, wie ein Mitarbeiter bescheinigt: „Weil sein Willen zu siegen ungebremst ist, hält er sich mit unglaublicher Kraft ständig in der Verfassung des psychischen Gewinners. Er ist zu leidenschaftlich, läßt sich hinreißen ...“

Nach so vielen Jahren, in denen Horn immer nur in der zweiten Reihe stand – was ihm zu schaffen machte –, ist er ganz oben angekommen. Trotzdem wollte er symbolisch unten bleiben – in seiner Fünfziger-Jahre-Neubauwohnung in der Nähe des Budapester Lehel- Platzes; den dortigen Wochenmarkt hätte er weiterhin gern besuchen wollen. Einfache Menschen seien ihm wichtig, betont er häufig, er sei unter ihnen aufgewachsen und fühle sich bei ihnen wohl. Nach jenen 63 Jahren klingt das wie Selbsttäuschung und falsche Sentimentalität.

Nach langem Hin und Her zog er dann doch in die Budapester Residenz des Ministerpräsidenten ein. Der Kostenaufwand für seine Sicherheit wäre sonst zu groß gewesen, „überzeugte“ ihn seine Leibwache.