: Sonntägliches Äpfelklauen in Altenwerder
■ Spaziergang durchs Biotop an der Süderelbe, einen Tag vor der Anhörung Von Kaija Kutter
Saftig, süßsäuerlich, sahnig, wie Limonade - nach dem Biß in die rote Backe eines frisch vom Baum geklauten Apfels bitte die Augen schließen und genießen. Die Sonne scheint, die Bienen in den von Wildkräutern überwucherten Wabenkästen stechen nicht, die Naturschützergruppe wartet fernab vor der Gertrudenkirche, wo die Besichtigung erst in 30 Minuten beginnt.
Romantik pur am Sonntag nachmittag in Altenwerder. Jenes innenstadtgroße Stück Land südwestlich der Köhlbrandbrücke, über dessen Schicksaal - Sandüberschüttung oder Nichtsandüberschüttung - ab heute nachmittag im Harburger Friedrich-Ebert-Saal im Rahmen einer Anhörung bislang nichtöffentlich verhandelt wird.
Für die Mehrzahl der Naturliebhaber, die gestern mit einer Barkasse nach Altenwerder fuhren, schien das Ergebis ausgemacht: Da es eine Behörde ist, die die Sache plant und prüft, dürfte dem ehemaligen Obstbauland, in dem heuer 34 verschiedene Biotoptypen existieren und über 140 Pfanzenarten wachsen, davon allein 35, die vom Aussterben bedroht sind, das Ende drohen. Zwar wollen die verbliebenen rund 40 Bewohner gegen ihre Vertreibung klagen. Doch es sei zu befürchten, so ein Umweltschützer, daß der Senat auf den „sofortigen Vollzug“ der Bebauung drängt und das Gelände zuschüttet.
Also vielleicht ein letztes Mal spazierengehen durch Altenwerder? Allein die Hinfahrt ist ein kleines Politikum. Nachdem der Senat Ende der 70er Jahre das Gros der 2000 Bewohner vertrieben hatte, wurde der Fahrplan der Fähr-Linie 61 von den Landungsbrücken mächtig ausgedünnt. Am Wochenende fahren die weißen Dampfer gar nicht mehr, werktags nur alle vier Stunden. Alle anderthalb Stunden fährt das Boot zum davorliegenden Anlieger Neuhof, wartet dort zehn Minuten, die es früher bis Altenwerder brauchte.
Dabei wäre das inzwischen entstandene Biotop ein vortreffliches Ausflugziel für Sonntagsspaziergänger. Und für Menschen mit einem Hang zum Praktischen. Die Musikstudentin Claudia P. zum Beispiel hat ihr Fahrrad vorne und hinten mit Eimern und Taschen gebehängt, so prall gefüllt mit Äpfeln, daß sie es kaum schieben kann. Am Freitag sei sie schon mal dort gewesen, berichtet sie. „Da war hier kein Mensch. Außer ein paar Trauergästen vor der Kirche. Die haben mich finster angeguckt.“ Ehemalige Altenwerderer wohl, die der Plünderung der verwilderten Obstplantagen mit Magengrummeln zusehen. Andere geben den Geheimtip an Freunde und Verwandte weiter, so an Claudia P.
Die Naturschützergruppe klaut keine Äpfel. Die Stille genießend, geht es erst einmal den „Querweg“ vom Hafen zur alten St.Gertrud-Kirche. Biologen haben hier soviele Besonderheiten ausgemacht, daß der Laie bei Betrachtung überfordert ist. Immerhin, „Calla palustres“, der Sumpfschlangenwurz in den Wasserbächen, ist schnell ausgemacht. Hie und da wird das Schlinggewächs von Entengrütze umrundet. Hellgrün, mittelgrün, tiefgrün das Gras, samtgrün die Blätter, rot die Äpfel, dazwischen flattern Zitronenfalter, alles zauberschön. Der Bürgermeister sollte mit Ehefrau hier spazieren und nachher noch einmal allen Ernstes von der Platznot der Container reden.
Fische, Störche, Reiher, Rehe, Bisamratten, auch die Liste der Tiere, die sich hier nach 20 Jahren Verwilderung heimisch fühlen, ist lang. Durch die Entnahme von Kleie, einer tonartigen Bodenschicht, die zum Deichbau benötigt wird, entstand 1983 in der Mitte Altenwerders ein Teichgebiet, das Fröschen und Kröten als Laichplatz dient. Allein 61 Vogelarten haben hier ihre Nester, sogar ein Seeadler wurde gesichtet. Auch nützliche Insekten, wie Gelbrandkäfer und Libellen, sorgen dafür, daß der Naturkreislauf funktioniert. Für den wäre es eigentlich ganz gut, wenn die reifen Äpfel gepflückt würden, sagt ein junger Naturschützer. Jedenfalls dort, wo der Boden verwildert ist. Die Bäume, die von Kühen bewacht werden, gehören dem letzten Bauern, der über eine derartige Eigenmächtigkeit gewiß erbost wäre. Kühe unter Bäumen sind praktisch. Sie halten das Gras kurz und düngen es zugleich.
Auch Menschen sind Natur, irgendwie. Alte Fotos in der St. Gertrud-Kirche dokumentieren das Leben, das hier bis in die 70er Jahre hinein geführt wurde. Anno 1963: Junge Frauen in weißen Kleidern schlendern den Dorfweg entlang, schieben Kinderwagen vor sich her. Engagiert berichtet eine Gemeindefrau vom Widerstand, den es 1979 gab, dem Jahr, in dem die Stadt mit Enteignung drohte. Die Altenwerderer wollten die Autobahn blockieren. Aber da habe ein Suffkopf der Polizei alles verpetzt, die drohte, jede Minute würde die Blockierer 10.000 Mark Strafe kosten. So kam es in der entscheidenden Stunde nicht zur Aktion. „Schade“, sagt die Frau, „heute kann man viel besser protestieren“.
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