: „Belgrad grüßt seine Gäste“
Während UN-Beobachter in Rest-Jugoslawien das Embargo gegen die bosnischen Serben überwachen sollen, spielen die Menschen Normalität ■ Aus Belgrad Rüdiger Rossig
Auf den Straßen von Belgrad ist Ende September 1994 von den UN-Sanktionen nicht viel zu spüren. Bei strahlender Sonne und Temperaturen zwischen 20 und 25 Grad im Schatten wälzen sich Menschenmassen die „Terazija“, Prachtstraße der serbischen Hauptstadt, herab. Die Schaufenster der Kaufhäuser und Boutiquen sind wohl gefüllt, stark befahrene Straßen und Menschentrauben an den Ampeln im Stadtzentrum verstärken noch den Eindruck einer pulsierenden Metropole. „Belgrad grüßt seine Gäste“ steht in zahlreichen Sprachen auf einem Schild über der Autobahn.
Wenige Kilometer weiter in Richtung Bosnien, kurz nach der Ausfahrt zum Flughafen Surčin, nimmt der Verkehr ab. Die Autofahrt dauert von hier bis zur Grenze keine Stunde. Blühende Felder säumen die Ränder des „Autoput Bratstvo I Jedinstvo“. „Brüderlichkeit und Einheit“ heißt das auf deutsch, denn die Straße, die wohl allen Griechenlandfahrern in schlechter Erinnerung ist, sollte die JugoslawInnen einmal an ihre gemeinsamen Interessen erinnern. Doch seit dem Beginn des Kriegs um Bosnien-Herzegowina im Frühjahr 1992 ist hier die Welt zu Ende: Hinter Sandsäcken stehen UN-Blauhelme und erklären, hier ginge es nicht weiter. Auf den Wegweisern steht „Bijeljina“ und „Sarajevo“.
Der Fahrer eines Kleinbusses aus dem westbosnischen Bosanska Dubica weist den Weg zum eigentlichen Grenzübergang, nach Sremska Rača, einer Ansammlung von Hütten an der einspurigen Straße. Vorne an der Schranke, wo die blauweißrot gestreifte Fahne der „Bundesrepublik Jugoslawien“ weht, warten fünf Lkws und ein paar Pkws mit Nummernschildern aus allen serbischen Gebieten Ex-Jugoslawiens.
„Egal ob die Sanktionen echt sind oder nicht“, meint Vlado, „die Zöllner nehmen sie bitter ernst.“ Der 32jährige Journalist verdient sein Geld zumeist als Übersetzer für ausländische Kollegen. Heute soll er für den Österreichischen Rundfunk die Grenzkontrollen filmen.
Von Kriegsbeginn bis vor wenigen Wochen lief die Versorgung der serbisch besetzten Gebiete Bosniens und Kroatiens über Sremska Rača. Neben dem rund 200 Kilometer südlich gelegenen Mali Zvornik war hier der wichtigste Übergang zwischen Rest-Jugoslawien und den serbisch besetzten Teilen Bosniens. Doch ob Serbien und Montenegro das Embargo, mit dem der serbische Präsident Slobodan Milošević am 4. August dieses Jahres die bosnischen Serben belegt hat, tatsächlich einhalten, ist alles andere als sicher. Ein Transporter aus Jaice, der zentralbosnischen Stadt, in der 1943 das sozialistische Jugoslawien proklamiert wurde, rollt vorbei. Die Plane trägt noch immer das Emblem einer Stuttgarter Spedition. Die Kontaktaufnahme zu dem Fahrer ist verboten. „Das stört die Abfertigung“, heißt es von der Grenzpolizei.
Von den UN-Beobachtern, die hier leicht entstellend „Humanitarci“ (Humanitäre Helfer) genannt werden, ist nichts zu sehen. Sie seien gerade zur Schulung auf dem Belgrader Messegelände, heißt es. Rund fünfzig Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen wie dem schwedischen Roten Kreuz sind bis Mitte letzter Woche in der serbischen Hauptstadt angekommen. Viel mehr war in Belgrad nicht zu erfahren: Der schwedische Ex-General Pellnas, der die Beobachtermission leitete, hatte bereits auf seiner Pressekonferenz am Dienstag zu verstehen gegeben, daß er an allzuviel Öffentlichkeit nicht interessiert ist.
„Vor dem Krieg war hier alles viel besser“, sagt der Ober in der knapp 10 Meter vom Grenzübergang entfernten Kneipe. „Ich weiß, wovon ich rede, denn unser Restaurant wurde schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet.“ An dem regen Verkehr der letzten drei Jahre habe er zwar gut verdient, doch reich sei diese Region an der Grenze zwischen der serbischen Vojvodina und Bosnien schon immer gewesen. „Vielleicht hatten wir früher weniger Geld, aber wir hatten sicher mehr Ruhe“, fügt er hinzu.
Vier Uniformierte fahren in einem Fičo, der jugoslawischen Version des Fiat 500, vorbei. Dem Kennzeichen nach kommen sie aus dem bosnischen Doboj. Offenbar ist die Grenzüberquerung für Pkws kein Problem, auch nicht, wenn die Insassen die Uniform einer fremden Armee tragen. „Was auf dem Nummernschild steht, heißt sowieso nicht viel“, sagt Vlado. Denn da das UN-Embargo gegen Rest- Jugoslawien bisher für die serbisch besetzten Gebiete Bosniens und Kroatiens nicht galt, hätten viele ihre Wagen in den dortigen „Serbischen Republiken“ angemeldet. Heute bemühen sich vor allem serbische und montenegrinische Firmen um Papiere aus der „Serbischen Republik“ Krajina, die nicht vom Belgrader Embargo betroffen ist.
Wohin die Güter auf den Ladeflächen tatsächlich gehen, ist unsicher, denn hinter der Grenze kann niemand mehr überprüfen, was wo ausgeladen wird. Auch die 135 Mitglieder der UN-Beobachtermission haben dort keine Kontrollmöglichkeit mehr. Daß Missions- Leiter Pellnas den Schwerpunkt der Arbeit der Beobachter-Mission in der Überwachung der Be- und Entladungen in Rest-Jugoslawien sieht, scheint da nur folgerichtig.
Entlang des Grenzüberganges stehen Container privater Speditionen. Sie sind die Verbindungsglieder zwischen den Firmen, die mit dem serbisch besetzten Bosnien Handel treiben, und den zuständigen rest-jugoslawischen Ministerien. „Für uns bedeutet das Embargo vor allem einen geschäftlichen Einbruch“, erklärt einer der Spediteure. Doch wie hoch die Verluste sind, will er nicht sagen. „Kommt in ein paar Tagen vorbei, aber abends“, stößt er schließlich zwischen den Zähnen hervor, „und laßt eure Kameras zu Hause.“
Wird das Belgrader Embargo gegen Pale, die „Hauptstadt“ der bosnischen Serben, eingehalten? „An der Grenze zwischen zwischen Bosnien und Montenegro, ein paar Kilometer hinter Nikšić, geht viel rüber“, heißt es in Belgrad in Journalistenkreisen. Und in Užice sollen noch sechs Wochen nach der Schließung der Grenze Lkws mit dem kyrillischen Kennzeichen „CC“, „Serbisches Sarajevo“, gesehen worden sein. In Sremska Rača zumindest wird sichtlich streng kontrolliert: In jedem Wagen, der den Grenzübergang überquert, sitzt ein serbischer Polizist. „Die machen die ganze Show doch nur wegen uns“, meint Vlado, „sobald wir weg sind, geht hier wieder alles ohne Kontrolle durch.“
Ein Milchtransporter aus dem nahen Sremska Mitrovica fährt vorbei, zurück in Richtung Heimat. In die andere Richtung folgt ein Transporter der „Jugoslawischen Armee“. Fahren die Soldaten in die „Serbische Republik“? Etwa um dort zu kämpfen? Laut UN-Angaben waren in Goražde auch reguläre jugoslawische Truppen eingesetzt worden. Oder wird der Wagen im Niemandsland hinter der Grenzstation halten? Unser Tischnachbar ist nach eigener Aussage Polizeimitarbeiter. „Ihr Deutschen und Österreicher seid doch alle Faschisten“, wispert er böse. „Ihr seid schuld daran, daß wir nun im Streit mit unseren Brüdern liegen.“ Ganze sieben Autos stehen auf dem riesigen Parkplatz des Belgrader Flughafens Surčin: ein Polizeiwagen, eines der weißen Fahrzeuge der UN-Schutztruppen und fünf Privatwagen. „Heute starten hier nur zwei Maschinen, eine für die UNO nach Zagreb und eine der unseren nach Tavat“, sagt der Parkwächter. Die jugoslawische Fluggesellschaft JAT fliegt seit Inkrafttreten der UN-Sanktionen nur noch Podgorica, das ehemaligen Titograd, und Tivat an der montenegrinischen Küste an. Vorausgesetzt, daß ausreichend Kerosin vorhanden ist, natürlich.
In der großen Abfertigungshalle stehen und sitzen rund fünfzig Menschen – Mitglieder der Belgrader Mittel- und Oberklasse, die ihren Urlaub an der montenegrinischen Küste verbringen wollen, einige wenige Geschäftsleute. „Was nutzt mir ein Flughafen“, fragt Svetlana Vukmanović. Seit zwei Jahren arbeitet die studierte Architektin an der Restaurierung mittelalterlicher serbischer Klöster – für zwischen 15 und 120 Mark monatlich, je nachdem, was die Inflation übrigläßt. Ihre Frage ist berechtigt: Zwar hat die Politik des derzeitigen Wirtschaftsexperten der rest-jugoslawischen Regierung, Dragoslav Avramović, die Lage entspannt, BürgerInnen mit normalem Einkommen bleiben jedoch von der relativen Beruhigung auf dem Geldmarkt weitgehend unberührt. So hat auch Svetlana andere Probleme als die Planung von Flugreisen. „Kriege ich Arbeit und einen vernünftigen Lohn durch die Aufhebung der Sanktionen in den Bereichen Wissenschaft, Kultur und Sport?“ faucht sie.
Die Frage, wem die Lockerung der Sanktionen gegen die „Bundesrepublik Jugoslawien“ eigentlich nutzt, stellen sich in Belgrad viele. Zumal das Angebot der Bosnien-Kontaktgruppe an die Regierung des international nicht anerkannten Staates in sich nicht schlüssig ist. Einerseits wird eine Öffnung der Flughäfen versprochen, andererseits aber über die Versorgung mit Treibstoff nicht einmal diskutiert.
„Zu Beginn des Krieges gab es in Bosnien tatsächlich jugoslawische Truppen“, sagt Svetlana, „deshalb waren auch die Sanktionen ein sinnvoller Schritt: Es ging darum, sowohl die Jugoslawische Volksarmee JNA als auch die Freiwilligen aus Serbien und Montenegro zum Rückzug zu zwingen.“ Heute aber sei die Lage völlig anders: „Das serbische Bosnien ist ein selbständiger Staat mit einer eigenen Armee – was sollen also die Sanktionen gegen uns?“
Für die nationalistischen Medien ist die Sache klar: Über eine Aufhebung der ohnehin ungerechten Sanktionen werde nicht verhandelt, weil es lediglich darum ginge, die Serben zu demütigen.
An den meisten Menschen in Belgrad geht die Diskussion vorbei. „Wir haben uns an die Sanktionen doch ganz gut gewöhnt“, sagt Valdan, der auf dem Markt Gemüse verkauft. Tatsächlich sind Auslandsflüge für die meisten Rest-JugoslawInnen nie ein Thema gewesen. Nach wie vor lebt über die Hälfte der Menschen auf dem Land, wo eine Umstellung auf Selbstversorgung auch im Zeitalter der Supermärkte kein Problem darstellt. Zumal die Landbevölkerung gut am kriegs- und sanktionsbedingten Mangel verdient hat. „Ich fahre mehrmals in der Woche nach Belgrad“, sagt Valdans Standnachbar auf der „Piazza“, dem Marktplatz der serbischen Hauptstadt, „davon läßt sich ganz gut leben.“ Im Ausland war er noch nie.
Parkplätze sind im Stadtzentrum Mangelware, und daß der Liter Benzin auf dem Schwarzmarkt noch immer drei Mark kostet, scheint den Spaß am eigenen Auto nicht zu beeinträchtigen. Wir fahren vorbei an den zwei Türmen des Gebäudes der staatlichen Spedition „Yugotours“, die hier nur „die zwei Idioten“ genannt werden. Noch scheint die Sonne auf die serbische Hauptstadt, noch flanieren die Belgrader auf den Prachtboulevards; doch die ersten braunen Blätter an den Bäumen an der „Straße der Serbischen Herrscher“, die früher einmal „Marschall Tito“ hieß, deuten den nahenden Winter an – die Jahreszeit, in der sich schon in den letzten beiden Jahren gezeigt hatte, wie dünn die Fassade der Normalität im Staate Miloševićs geworden ist.
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