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Geschichte als Triebschicksal

Patrice Chéreau, in Deutschland vor allem durch seine Operninszenierungen „Wozzek“ und „Ring der Nibelungen“ bekannt, stellt seinen Film „La Reine Margot“ in Deutschland gekürzt als „Die Bartholomäusnacht“ vor  ■ Von Mariam Niroumand

Gar nicht viel Zeit verging, da folgte auf Rivettes Kinoballade über Jeanne la Pucelle, die Königsmacherin, Patrice Chéreaus „La Reine Margot“, in Deutschland zu „Die Bartholomäusnacht“ verkürzt. Lust auf Geschichte? Vollzieht das Kino den frankophilen Pomp nach, mit dem die sozialistische Regierung sich in der Pariser Stadtarchitektur festschreiben wollte? Ach nein. Viel zu zart sind beide Filme geraten, in keinem werden Tableaus mit Brokaträndern aufgeblättert, beide haben Angst vor dem „Historienfilm“ und sind trotzdem Kino at its best, im Fernsehen undenkbar. Produziert, in Chéreaus Fall, von Frankreichs Mogul Claude Berri, der immer auf der Suche ist nach guten „Publikumsfilmen“.

Vor dem Historienfilm hat sich Rivette in ein morgengraues Dokudrama geflüchtet, und Chéreau hat, wie es ihm gefällt, einen unbändigen Bastard gezeugt: „La Reine Margot“ fühlt sich an manchen Stellen an wie ein Sportfilm, so schwitzt und keucht, ringt und blutet und platzt es; dann wieder so eine Art „Good Fellas im Louvre“, eine Mafia-Denver-Clan-Geschichte; ein Mantel-und Degen- Film, ein Comic, ein Film von Ozu, mit der Adjani als weißer, liebender Geisha.

Die einzigen, die garantiert nicht auf ihre Kosten kommen, sind Heinrich-Mann-Leser, die auf eine Verfilmung der „Jugend des Königs Henri IV“ hoffen. Der Film stützt sich wesentlich auf Alexandre Dumas' Roman „La Reine Margot“, der die Entwicklung zur Bartholomäusnacht im wesentlichen mit den Augen des 19. Jahrhunderts sieht; feuilletonistisches Sammelsurium einzelner, mit Pikanterien gewürzter Episoden, die gebündelt den Werdegang einer großen Nation ergeben (so ähnlich ist der Roman auch entstanden: Wenn Dumas keine Lust hatte, ließ er bezahlte Schreiber einzelne Erzählstränge weiterverfolgen, entsprechend schwankend ist die Qualität des Dings).

„Ich hatte eine Szene gelesen: Wie der blutüberströmte La Môle (protestantischer Don Quichotte) in der Bartholomäusnacht halbtot auf seine Königin fällt“, erzählte Chéreau in Berlin. „Da wußte ich: das will ich filmen.“

Das ganze 16. Jahrhundert über schwelte im katholischen Frankreich der Bürgerkrieg gegen die Protestanten, die seit Calvin nicht nur freischweifende Bibelrebellen waren, sondern nachgerade eine eigene Theokratie. Was auf den ersten Blick demokratischer aussah als das römische Diktat – Pastoren und Älteste wurden gewählt – entpuppte sich als scharfe Kontrolle eines Konsistoriums. Dennoch war die Sache für den niederen Adel und natürlich für die mit Macht aufwallenden Renaissancemenschen interessant, für Ärzte, Advokaten, Professoren. („Ihr duzt euren Gott“, sagt der Katholik Coconnas verächtlich zu seinem unfreiwilligen Bettnachbarn La Môle, gleich am Anfang von Chéreaus Film.) Das Ganze fing an, für den katholischen Hof ungemütlich zu werden; wenn sich, wie in Deutschland, das Volk der Bewegung angeschlossen hätte ... Bei Heinrich Mann kann man lesen, wie unter solchen Bedingungen eine Philosophie wie die von Montaigne entstand, in der Gott in abstrakte Weiten, in splendid isolation entrückt, was wiederum den Stoff zu einem modernen macht.

Katharina von Medici, Mutter des Königs Karl IX., hatte den Protestanten zwar erlaubt, ihre Religion under cover auszuüben, aber das versöhnte nicht wirklich mit den herrschenden Katholiken. Überall glommen kleine Schwelbrände; hier ein Bethaus, da eine Gruppe Gläubiger, dort eine Plünderung. Katharina, aus Angst vor einem Bürgerkrieg, gibt ihre Tochter Marguerite von Valois, genannt Margot, Heinrich IV. zur Frau. Die edle Geisha (Isabelle Adjani) und der lustige Bauern-Clown (Daniel Auteuil) aus den Pyrenäen opfern sich der Staatsräson; bei Chéreau lieben sie sich nicht, und so ist die pompöse Hochzeit das einzig starre, zum Historiengemälde gefrorene Tableau dieses Films. Schon wenig später juchzen alle im Hof bei Musik und Wein und gelockerten Miedern, die bebende Marmorbrüste beziehungsweise relativ peinliche Amulette auf braungebrannten Surfer-Körpern sehen lassen. Lasziv bis ins Schläfrige liegt Margot in den Armen ihrer Freundin Henriette de Nevers und läßt sich die wichtigsten Angaben zu den anwesenden Herrn ins Ohr raunen. Unter den Tanzenden schleicht der Herzog von Guise, dem sie diese ihre Hochzeitsnacht verspricht („Ich möchte, daß mir die Lust meinen Tod vor Augen führt“, hihi! der Franzos!).

Man merkt schon: Kabale werden durchaus von der Liebe strukturiert, der angedeutete Inzest zwischen Margot und ihren langhaarigen 70's-Brüdern oder der zwischen Katharina und ihrem Sohn, dem Herzog d'Anjou, erhält weit mehr Raum als die Frage, wie sich eigentlich das Ausland, also Spanien, England und die Habsburger verhalten werden, wenn man Paris „ethnisch säubert“, „protestantenfrei“ macht. Auch die genialste Besetzung in diesem Film, Virna Lisi als Katharina, deren wächsernes Vogelgesicht man ständig dräuend auf den Balustraden auftauchen sieht, handelt aus libidinöser Amtsanmaßung. Geschichte als Triebschicksal. Durch die Kostüme wird das noch unterstrichen; man sieht eher Géricault oder Zurburán – einfache, körpernahe Tücher – als Staffage, Hofschranzen, Brokat und Gold (siehe unser Interview mit der Kostümbildnerin Moidele Bickel, S. 14). Der König (wunderbar: Jean-Hugues Anglade) schwitzt Blut.

Mit Margot laufen wir, als die Nacht noch jung und der Funke gerade erst übergesprungen ist, der aus drei, vier Attentaten ein Massaker macht, durch die Gänge des Louvre, auf denen eben noch gelacht, gefeiert, gevögelt wurde. Da schneidet einer dem Kammerfräulein die Kehle durch, da soll einer abschwören – zack!, noch vorher kostet es ihn den Kopf, dem Admiral von Coligny tritt der Guise ins Gesicht. Andere Bilder drängen sich auf. Am Morgen werden die Leichen nackt auf Holzkarren gestapelt und in ein Massengrab geworfen. In den engen Straßen stapeln sich Frauen, Männer, Kinderleichen. Hatte La Môle nicht noch gesagt: „Wir sind wie die Kinder Israels, und wir werden das Gelobte Land erst erreichen, wenn wir unendliche Verfolgungen ertragen haben.“ Zu den Credits am Schluß hört man Ofra Haza „Elohi“ singen. Kann Chéreau das beabsichtigt haben, die Hugenotten als die Juden Frankreichs, die Bartholomäusnacht als das Vichy des 16. Jahrhunderts? „Ja sicher“, hat Chéreau erklärt. „Natürlich will ich nicht sagen, daß es genauso war. Es war kein Holocaust an Protestanten; es war Massenmord, aber kein Genozid. Sie sollten konvertieren oder das Land verlassen – ein fundamentaler Unterschied zu den Juden, die man vernichten wollte ganz unabhängig von ihrem Glauben. Aber wenn man heute von Massakern redet, hat man unglücklicherweise, ohne es zu wollen, die Bilder der Vernichtungen in diesem Jahrhundert vor sich. Ich bin nicht eines Tages aufgewacht und habe mir gesagt: ,Ich will von der Shoah, von Jugoslawien [die Musik ist von Goran Bregovic, einem Serben, der meist kroatische Chöre singen läßt, d. Red.], von Ruanda reden‘ – sie kommen zu mir. Der Regisseur kann das nun unterstützen oder dem entgegenwirken; ich habe zu allen diesen Bildern gesagt, sie können ruhig in meinem Film wohnen.“

Wie kommt es, daß der Film dann trotzdem kein politischer Film geworden ist? Chéreau: „Weil sich nicht alles darin auflösen läßt. Politisches Kalkül ließ es notwendig erscheinen, daß man einige Protestanten umbringt, einige Schlüsselfiguren, aber nicht zehntausend in einer Nacht! Das ist in eine andere Ebene gerutscht, Richtung Barbarei.“

Und wie erklärt er sich, daß jemand wie Berri sich auf ein solches Thema einläßt? Hat die „Reine Margot“ den Franzosen der Neunziger noch irgendetwas zu sagen? „Ich als Katholik bin immer noch wütend – auch wenn das vielleicht naiv ist – daß die Katholiken so etwas getan haben. Noch heute gibt es eine Spaltung zwischen Protestanten und Katholiken; es gibt Regionen in Frankreich, in denen das ganz offensichtlich ist. Diese Spaltung entspricht ungefähr der zwischen rechts und links. Im Südosten zum Beispiel gibt es eine protestantische Tradition von linken, intellektuellen, sozialistischen Bewegungen. Wieder eine Parallele zu den Juden: Unter Ludwig dem XIV. sind die Hugenotten nach Brandenburg und Berlin geflohen, das war ein Exodus der Intelligenz, der Frankeich ebenso arm zurückgelassen hat wie der unter Hitler Deutschland.“

Jedem anderen wäre so ein Film in seine einzelnen Komponenten zerfallen, bei Chéreau infiziert ein Genre das nächste. Seine Opernerfahrung, speziell die mit Wagner (er wurde hier vor allem durch seine Inszenierung des „Ring“, 1976 in Bayreuth bekannt) gibt „La Reine Margot“ die Endzeitstimmung und das permanente Gefühl von Ensemblespiel. Die Arbeit mit dem Vorstadttheater, das er leitete, als er erst zwanzig Jahre alt war, hat sicher auch geholfen, den Star Adjani in den Rhythmus einer ganzen Truppe einzubinden. Der Horror-Thriller „La chair de l'orchidée“ (1974) mit Charlotte Rampling ist in den Verfolgungsjagden und dem Nachtblau wiederzusehen. Er selbst hat es am schönsten gesagt: Seine Inszenierungen sind Häuser, die für unerwarteten Besuch offenstehen.

Regie: Patrice Chéreau. Mit: Isabelle Adjani, Jean-Hugues Anglade, Virna Lisi, Daniel Auteuil u.a. Frankreich, 1994, 160 Min.

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