piwik no script img

Im Rausch der Ernüchterung

■ Anonyme AlkoholikerInnen und ihre Familien – Bremer Kontaktstelle blickt auf zehn Jahre Arbeit zurück

Ab wann ist man Alkoholiker? „Das“, schüttelt ein Mitglied der Anonymen Alkoholiker (AA) den Kopf, „können wir nicht beantworten. Das muß jeder für sich selbst definieren.“ Anders die Frage nach dem, was Alkoholismus ist: „Eine dreifache Krankheit, die den Körper, den Geist und die Seele befällt. Eines des Symptome ist ein unkontrollierbares Verlangen nach Alkohol.“

Dieser Grundsatz gilt für alle Mitglieder der AA-Gemeinschaft, die 1935 durch einen New Yorker Börsenmakler und einen Chirurgen aus Ohio gegründet wurde. Bill und Bob, – die Mitglieder nennen sich nur beim Vornamen –, entwickelten ein 12-Schritte-Programm, das erst amerika-, schließlich weltweite Erfolge feierte. Die erste Gruppe in Deutschland entstand 1953 auf Initiative von amerikanischen Soldaten.

Mehr als zwei Millionen „nüchterne Alkoholiker“ sind in 152 Ländern organisiert. In Bremen gibt es etwa 65 Gruppen mit durchschnittlich 15 Mitgliedern. Verschiedene Ethnien, Religionen, Kulturen sind präsent. Jede soziale Schicht ist vertreten, jeder Beruf, jedes Alter, wobei zunehmend junge Menschen Hilfe bei den AA suchen. Angehörige und FreundInnen von Menschen mit Alkoholproblemen finden Rat in den 35 Bremer Al-Anon-Gruppen. Die Kontaktstelle, eine von bundesweit 27, befindet sich in der Sebaldsbrücker Heerstr. 15 und feiert am Samstag ihr zehnjähriges Bestehen.

„Der Alkohol ist eine Familienkrankheit“, bestätigt Heinz, Vater einer alkoholkranken Tochter, die schriftlichen Hinterlassenschaften von Bill: „Jede Familie, Frau und Kinder, die gezwungenermaßen Jahre hindurch mit einem Alkoholiker zusammenleben mußten, werden unausweichlich selbst seelisch gestört und sehen daher viele Dinge verzerrt. Dagegen sind sie machtlos.“ Wenn das stimmt, was tun die Familienangehörigen dann bei Al-Anon?

„Das erste ist zuhören“, sagt Ulrike, verheiratet mit einem ehemaligen Trinker. Als große Erleichterung hat sie empfunden zu erfahren, daß andere dieselben Probleme haben. Diese zu lösen, erfordert mehr: „Es hat lange gedauert, um das Loslassen zu lernen“, meint Heinz und beschreibt die erdrückende Fürsorge, mit der er seine Tochter vom Alkohol wegzubringen hoffte. Abgrenzung war notwendig, nicht nur sie, er selbst war es, der lernen mußte, ein eigenes Leben zu führen.

„Es gibt einen Unterschied zwischen los- und fallenlassen“, sagt er. Ein schmaler Grat, der täglich neu abzutasten ist, bestätigt Petra, die ihr Verhalten gegenüber dem Ehemann ändern mußte: Weggehen statt schimpfen, dem Trinker die Aufmerksamkeit entziehen, sich selbst mehr achten. „Für mich war es ein Rückfall, wenn ich wieder meinen Mann kontrolliert habe. Dadurch, daß er ständig seinen Seelenmüll bei mir abladen konnte, habe ich ihn auch abhängig von mir gemacht.“

Die Sucht nach Überlegenheit, die der Fürsorge innewohnt, ist, sagen die Al-Anons, ebenso schwer zu überwinden, wie die Sucht nach Alkohol. Wenig erstaunlich, daß sie mit demselben Programm arbeiten wie die AlkoholikerInnen. Da es stark auf den Glauben abhebt, wird das Konzept von vielen als zu religiös kritisiert, mit Sektenarbeit gleichgestellt. Doch der „Gott“ repräsentiere lediglich ein „höheres Selbst“, an das zu glauben nichts mit einer konkreten Religion zu tun hat, versichern die Gruppenmitglieder.

„Wir haben zugegeben, daß wir Alkohol gegenüber machtlos sind und unser leben nicht mehr meistern können“, lautet der erste der 12 Schritte, die die persönliche Inventur einleiten und Selbstlügen enttarnen: Die Gier nach Macht, die die nach Unterordnung so perfekt ergänzt, das „Subjekt“, das dem „Objekt“ das Prädikat „wertlos“ ausstellt. Die Fürsorge als Mittäterschaft, meint auch Inge, sei aufzugeben zugunsten einer nur auf den ersten Blick egoistischen Lebensweise: „Man muß dem Alkoholiker beide Hände unterm Hintern wegziehen, erst dann hat er eine Möglichkeit, wieder auf die eigenen Beine zu kommen.“

Daß der Trinker zugrunde gehen muß, um den Grund seines Trinkens zu erkennen, ist eine harte Lektion auch für die Nahestehenden. Alleine nicht zu schaffen, sind sich die Al-Anons in der Kontaktstelle einig. Den Halt der Gruppe will hier niemand missen. Bei Gesprächen und gemeinsamen Unternehmungen haben hier manche „nach Jahren das Lachen wiedergefunden“.

Friedel etwa ist eine Frau, die mit Erfahrungen und handfestem Humor schon vielen Menschen neue Perspektiven eröffnen konnte. Die gut 80jährige arbeitet in der AA-Kontakststelle, die sich in der ersten Etage desselben Hauses befindet. 12 Jahre hat Friedel getrunken, seit 28 Jahren ist sie trocken. „Ich staube schon“, kommentiert sie diese Leistung.

Gab es nach so langer Abstinenz, nach so offensichtlich gelungener Abkehr vom Alkohol nie den Wunsch, auch den AlkoholikerInnen den Rücken zu kehren? „Nein“, wehrt Friedel ab. „Ich empfinde ein tiefes Glück, wenn junge Menschen hier wieder nüchtern werden.“ Zum anderen, gibt sie zu bedenken, sind ehemalige AlkoholikerInnen ein Leben lang gefährdet: „Man hat es erst geschafft, wenn der Sargdeckel zuklappt.“

Dora Hartmann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen