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Ein Herz für Ossis

Brüderlich mit Herz und Hand: Wie – just zum Vollzug der deutschen Einheit – ein West-Herz einem Ost-Bürger aus Schwarze Pumpe das Leben verlängerte / Eine kardiologische Betrachtung zum 3. Oktober  ■ Von Chris Zerpka

Hand aufs Herz, es ging doch nur ums Geld. Die DDR-BürgerInnen wollten Geld ausgeben, die Westrepublikaner wollten Geld verdienen. Da traf sich was, das zusammenwollte. Nach vier Jahren Vernunftehe wird allenthalben von dem erschreckenden Mangel an Liebe und Gefühl, an Herzenswärme gesprochen. Nur wenn in Eberswalde der neue BMW geliefert wurde, wenn in Castrop-Rauxel Sonderschichten eingelegt werden mußten, schlugen die Herzen höher. Über all diese Herzlosigkeiten ist viel geklagt und geschrieben worden, über den unmenschlichen Wessi und den undankbaren Ostdeutschen.

„Brüderlich mit Herz und Hand“ heißt es doch in der Hymne, aber statt dessen herrscht hartherziger Egoismus allüberall. Wie wird es einem da warm ums Herz, wenn man erleben durfte, wie ein Herz kraftvoll für die Einheit schlug.

Es schlägt noch immer. Es schlägt in der Brust von L., einem Bürger der vormaligen DDR. L. lebt in einer Kreisstadt im Herzen der Lausitz. Seine Vergangenheit ist schnell erzählt. Als Elektroingenieur war er ein nützliches Mitglied der DDR-Gesellschaft. In seinem Betrieb wurde er gebraucht, und auch ohne Parteizugehörigkeit hatte er es zu einem ansehnlichen Wohlstand gebracht. Verheiratet, zwei Söhne, ein weißer Lada vor dem mit viel Eigeninitiative und Organisationstalent erbauten Eigenheim, wäre L. nie auf den Gedanken gekommen, es seinem älteren Bruder gleichzutun, der in den fünfziger Jahren nach West-Berlin gegangen war.

L.s Herz hat viel verkraftet. 40 Jahre Deutsche Demokratische Republik, den nervenaufreibenden Bau seiner Vorstadtvilla, den stinkenden Rauch jenes Industrie-Vulkans am Südrand der Stadt, den sie „Schwarze Pumpe“ nennen, und schließlich noch die unerwartete Scheidung nach fast 30 Jahren Ehe.

Das alles ist lange her, liegt vor jenem Ereignis, welches im Westen als „Mauerfall“, im Osten hingegen als „Wende“ bekannt wurde. Erst in der turbulenten DDR-Endzeit begann L.s Herz Symptome von Schwäche zu zeigen. Im späten Frühjahr 1990, als die Westmark ihren legalen Einzug hielt, lag L. schon im Kreiskrankenhaus. Zur Beobachtung. Sein Herzmuskel hatte sich abgenutzt, sein Zustand gab Anlaß zu Besorgnis. Schließlich wurde er per Hubschrauber in das Herzzentrum der DDR nach Berlin-Buch verlegt.

Das dortige Klinikpersonal war in Aufbruchstimmung, träumte vom Westgehalt und verdingte sich immer häufiger im Westteil der Stadt. Die DDR lag in den letzten Zügen, L.s Zustand verschlechterte sich. Es stand schlimm um ihn.

Im September wurde ihm schließlich eröffnet, daß die Möglichkeit bestünde, ihn in Westberlin zu behandeln. Drei Tage später lag der Herzpatient L. auf der Intensivstation des Herzzentrums im Westberliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus. Auf der Warteliste für Spenderherzen stand sein Name nun ganz oben. Sein DDR-Herz war nicht mehr zu retten. L. wartete emotionslos auf den neuen Herzmuskel, war beeindruckt von dem Gedanken, daß sein Bett 2.000 Westmark pro Tag kostete. Ein völlig neuer Gedanke.

Am 3. Oktober 1990 hatte er kein Herz mehr. Als die Deutsche Demokratische Republik sich in fünf neue Bundesländer verwandelte, hing L. an einem monströsen Kunstherzen, einem Kasten, der am Fußende seines Bettes stand und den mystischen Muskel pedantisch imitierte. Aus seinem Bauch führten zwei Schläuche, an denen zwei Membrane wie unerbittliche Zeitbomben tickten. Tag und Nacht. Ein Spitzenprodukt westlicher Kardiotechnologie, welches ihn am Leben erhielt.

Erst nach vier Wochen konnte ein passendes Spenderherz eingeflogen werden. Ein West- Herz, jung und stark, unverbraucht, gehärtet im realen Kapitalismus, wo es für harte Arbeit hartes Geld gab, keine Alu- Chips.

L. hat nie erfahren, in welchem Körper dieses Herz einmal geschlagen hatte, was für ein Mensch der nun herzlose Spender gewesen war. Jedenfalls erwies sich das West-Herz als problemlos und anpassungsfähig, vertrug sich gut mit dem umliegenden Gewebe, sein Restkörper zeigte keinerlei Abstoßungsreaktion gegen die Westware. Es schlug präzise und eintönig, und da die Nerven zum Gefühlszentrum durchtrennt wurden, blieb es auch von Emotionen unbehelligt.

Nach drei Wochen wurde L. in eine Rehabilitationsklinik verlegt. Dort mußte er erleben, wie andere mit heftigen Immunreaktionen ins Herzzentrum zurücktransportiert wurden. Nicht so er. Anfang Dezember konnte er entlassen werden. Seine Heimatstadt war nun Teil des Bundeslandes Brandenburg, und vieles hatte sich verändert.

Es gab einige neue Läden, viele fliegende Händler, aber der Kaufrausch hatte schon Dämpfer erhalten. Das Industriekombinat Schwarze Pumpe, größter Arbeitgeber und Luftverpester der Region, wurde dichtgemacht. Auch L.s Betrieb war in Abwicklung. Zwar hatte die Konkurrenz aus dem Westen seine Übernahme erwogen, dann aber abgewinkt. Nur den Kundenstamm haben die übernehmen wollen, munkeln die Kollegen. Sie beneiden L. um sein neues Herz und die Frührente. Glück hat er gehabt mit seinem Herz.

Sein Häuschen mit Garten hat inzwischen Weststandard. Die Plastetürklinken wurden gegen Messing ausgetauscht, und in der Garage steht ein blauer Mercedes. Gebraucht zwar, aber immerhin. Geheiratet hat L. auch wieder, seine neue Frau stammt aus Vorpommern. Von seiner Terrasse aus sieht er die Reste der „Schwarzen Pumpe“. Es stinkt nicht mehr. Er ist CDU- Mitglied geworden. Mit seiner geglückten Herzgeschichte gehört L. zu den Gewinnern der Einheit. Und hat ihm der Einheitskanzler nicht das Leben gerettet, irgendwie?

55 Jahre ist er jetzt. Er hat gute Chancen, mit seinem West-Herz alt zu werden. Ohne sein neues Herz wäre er tot oder arbeitslos. Die Hähnchenschlachterei, in der seine Frau gearbeitet hatte, hat der West-Besitzer schon wieder zugemacht. L. teilt die Enttäuschung seiner Ex-Kollegen.

Auch ihn beschleicht bisweilen das Gefühl, überflüssig zu sein. Manchmal, nach dem dritten Bier (eigentlich sollte er nicht trinken), schüttet er sein Herz aus: „Irgendwas ist wieder falsch. Früher hatten wir einen falschen Sozialismus, jetzt haben wir einen falschen Kapitalismus.“ So richtig mit dem Herzen kann er wieder nicht mitmachen. Trotz gelungener Operation.

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