: "Kolonialoffiziere in den Provinzen"
■ Historikertag ignoriert ganz souverän die DDR-Geschichte und den Umbruch in Osteuropa
Überall in Leipzig wird gebaggert und zementiert, die Gründerzeithäuser werden ausgeweidet und die Fassaden restauriert. Nächste Woche fällt ein Flaggschiff der realsozialistischen Plattenbauarchitektur der Spitzhacke zum Opfer, das riesige Hotel „Stadt Leipzig“. Seit Mittwoch und bis zum Wochenende ist es völlig ausgebucht, denn in die Stadt sind beinahe 2.000 Historiker eingefallen, um hier ihren 40. Verbandstag zu zelebrieren. Es ist der erste Historikertag, der in den neuen Bundesländern stattfindet. Aber während Abriß und Neubau in hekischem Tempo vorangetrieben werden, gehen die Historiker das Phänomen Umbruch sehr gemächlich an.
Auf dem Eröffnungstag am vergangenen Mittwoch war viel von longue durée die Rede, nicht nur die Histographie, auch die Politik sei ein Phänomen der langen Dauer. Die Umwälzung im Osten dürfe nicht nur als Ereignisgeschichte interpretiert werden, nur weil sich im Westen nichts geändert habe, meinte der Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, Wolf Lepenies. Und verpackt in sein Plädoyer für eine langfristige Betrachtungsweise historischer Ereignisse, empfahl der Soziologe den Historikern doch einen „souveränen Umgang mit vergangenen und gegenwärtigen Herrschern“. Das war ein deutlicher Seitenhieb an die Zunft, die sich über die Frage, ob der Spitzenkandidat der CDU, Helmut Kohl, so kurz vor den Wahlen über sein Lieblingsthema „Nationale Identität im vereinten Europa“ auf dem Historikertag reden darf oder nicht, fast zerstritten hätte. Letzlich hatte der Bundeskanzler diese Frage dann selber entschieden. Um „jede politische Instrumentalisierung von Geschichtswissenschaft zu verhindern“, schrieb er zwei Wochen vor dem geplanten Auftritt an den Vorsitzenden des „Verbands der Histroiker“, verzichte er auf die Ehre. Die Tagespolitik erschütterte dann die Historiker nicht weiter, aber sie taten damit des Guten zuviel. Es hatte fast den Anschein, als ob die Hinwendung zum longue durée die faule Ausrede dafür war, sich nicht um die jüngste Geschichte kümmern zu müssen. Vierzig Jahre deutsche Teilung, der Kalte Krieg, die Stasi, der SED-Staat, der Umbruch in Osteuropa, die Entstehung von neuen Nationalstaaten und nationalistischen Kriegen spielten auf dem Historikertag – der heute zu Ende geht – kaum eine Rolle. Und obwohl der Kongreß in Leipzig stattfand, referierten in den 33 Sektionen zu alter, mittelalterlicher, neuerer- und osteuropäischer Geschichte fast nur Westwissenschaftler. „Mich erinnert die Tagung an ein Treffen der Kolonialoffiziere in den neu eroberten Provinzen“, meinte ein Hochschullehrer aus Bayern. Die DDR kam nur in einer Sektion vor – und die hatte nicht der Verband der Historiker organisiert, sondern der Unabhängige Historikerverband aus dem Osten. Es ging um die Wissenschaftspolitik der SED von 1949 bis 1989, und auf dem Podium referierten vier Opfer dieser Wissenschaftspolitik. Sie waren die einzigen, die sich mit der ideologischen Indoktrinierung des Staates auf die Wissenschaft auseinandersetzten und neue, anhand der MfS-Akten gewonnene Forschungsergebnisse vorlegten. In den anderen Sektionen wurde die Geschichte der DDR souverän ignoriert. Genauso souverän mißachtet wurde die während der Eröffnungsreden vielbeschworene Notwendigkeit, den Blick auf Osteuropa zu richten. Es gab nur eine einzige Sektion zur Geschichte Rußlands und der Sowjetunion. Dieses Defizit wiegt um so schwerer, weil in allen neuen Bundesländern das Unterrichtsfach Geschichte wie kein zweites in der Krise steckt. Weil die Lehrer das Gefühl haben, nur Falsches sagen zu können, sagen sie gar nichts mehr oder lassen ihre Schüler seitenweise die Merkhefte von der Bundeszentrale Politische Bildung vorlesen. aku
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