: Aus Anlaß des Tages der deutschen Einheit gründen Arbeitslose das 17. Bundesland und entsenden eine Abordnung zu den Feierlichkeiten / Wir bringen ein landeskundliches Porträt und sprechen mit einem der wenigen freiwilligen Einwohner des Landes Von Barbara Dribbusch
Denkwürdiges aus Arbeitslosien
Lange Zeit haben die Arbeitslosianer stillgehalten, nun stehen sie auf: Mit großen Ballons und Transparenten möchten sie in Berlin während der Feiern zum Tag der Einheit das 17. Bundesland repräsentieren. Sie werden sich einreihen in den großen Festumzug, der am 2. Oktober um 12 Uhr an der Siegessäule beginnt. Was ist Arbeitslosien für ein Land?
Eigentlich müßte es ein Paradies sein. Hier gibt es keine Büros, keine Schichtarbeit, keine Chefs. Trotzdem wohnen die meisten nicht freiwillig hier. Denn in Arbeitslosien gibt es ein Problem: Es ist leicht, hier hereinzukommen, aber schwerer, wieder abreisen zu dürfen. Das ist nicht die einzige Besonderheit.
Wer in den übrigen 16 Bundesländern keinen Job findet, landet hier. Und das waren viele: Allein in den östlichen Bundesländern verschwanden seit 1990 zwei Millionen Arbeitsplätze. In den westlichen Ländern wurden bis Dezember 1993 im Vergleich zum Vorjahresmonat rund 600.000 Stellen abgebaut. Die meisten neuen Arbeitslosianer kamen aus der Industrie, aus Betrieben für Maschinenbau, Stahl- und Chemieproduktion, Textilfabriken. Aus den östlichen Bundesländer trafen außerdem viele Landarbeiter ein.
Nicht jede Einreise erntet die gleiche Aufmerksamkeit. Stapft ein Pulk Stahlkocher aus Brandenburg über die Grenze, surren die Fernsehkameras, und es geht ein Raunen durch die Menge. Die großen Gruppen der Textilarbeiterinnen aus der Lausitz schoben sich dagegen sehr leise herüber. Besonders viel Presse wartet an der Grenze, wenn Neue aus dem Westen eintreffen. Muß sich ein Treck Kfz-Schlosser aus einem schwäbischen Automobilkonzern oder Bergleute aus dem Ruhrgebiet mit ihren schwarzen Gesichtern auf den Weg machen, gibt es Aufsehen, sogar Politikerreden am Schlagbaum. Kommen dagegen die türkischen Bandarbeiterinnen aus einer Westberliner Strumpffabrik oder gar Heimarbeiterinnen aus dem bayerischen Wald, dann scheint es fast, als wären sie schon immer hier gewesen, als gehörten sie dazu. Ihre Ankunft ist keine Sensation.
Die meisten Ankömmlinge tröpfeln einzeln und still über die Grenze nach Arbeitslosien. Viele werden nicht mal behördlich erfaßt. Denn das Land scheint zwar genauestens erforscht und dokumentiert, tatsächlich aber herrscht hier große Unübersichtlichkeit – wozu das ständige Kommen und Gehen an der Grenze nicht unerheblich beiträgt. 3,6 Millionen Bewohner wurden am letzten Stichtag im August offiziell in Arbeitslosien gezählt, immerhin fast so viele Einwohner wie im Land Rheinland-Pfalz, der Heimat des Kanzlers. In Wirklichkeit aber weilen während eines Jahres sehr viel mehr Menschen in dem Land.
Denn ein Drittel der Bewohner bleibt nicht länger als höchstens drei Monate, ein weiteres Drittel bis zu einem Jahr. Nur das letzte Drittel lebt länger hier. Kein Wunder, daß die Grenzbehörden im vergangenen Jahr sechs Millionen Einreise- und fünfeinhalb Millionen Ausreisebestätigungen ausstellten. Manche Leute wandern im Jahr sogar mehrmals über die Grenze herein und wieder zurück. Nicht zu vergessen die Nichtregistrierten, die „stille Reserve“. Man schätzt ihre Zahl auf zwei Millionen, meist sind es Frauen.
Überhaupt ist Arbeitslosien ein Land der Frauen: Sie stellen 1,8 Millionen der offiziell registrierten Arbeitslosianer, mit der „stillen Reserve“ aber sehr viel mehr als die Hälfte aller Einwohner. Auch sie fühlen sich meist nicht wohl hier. Dabei ist das Land auf den ersten Blick eigentlich gar nicht so häßlich, nur eben ärmlicher als andere Gebiete. Die Zeit vergeht hier allerdings auf gespenstische Art und Weise. Für Neuankömmlinge laufen die Uhren schneller, und für die Langzeitbewohner plötzlich unerträglich langsam: Je länger du hier bist, desto unwahrscheinlicher wird nämlich die Rückkehr in die alte Heimat. Wer länger als ein Jahr hierbleibt, hat kaum noch eine Chance, wieder hinauszukommen. Das drückt auf die Stimmung.
Die Kurzzeitigen, die nicht länger als höchstens drei Monate hier bleiben, sind noch relativ gut dran. Fast fühlen sie sich wie im Urlaub: keine Akkordmaloche, kein tyrannischer Chef, sie können sich richtig ausschlafen. Viele Bauarbeiter und Saisonkellner, aber auch Verkäuferinnen und Köchinnen verbringen hier nur kurze Zeit. Im tiefen Winter, aber auch im Hochsommer, strömen vor allem Kurzzeitige über die Grenze.
Für die Kurzzeitigen rennt die Zeit, denn nichts ist schlimmer für die meisten, als nicht mehr rechtzeitig hier hinauszukommen und dann am Ende zu den Langzeitigen heruntergestuft zu werden. Während ihres Aufenthalts meiden sie daher die Landstriche mit den Langzeitarbeitslosianern. Ein Treffen mit Langzeitigen macht immer ein schlechtes Gewissen.
Denn gerecht ist es nicht, wenn man als Langzeitbewohner hier hängen bleibt. Mehr als die Hälfte der Langzeitigen ist älter als 45 Jahre und hat allein wegen des Alters schlechte Chancen, hier vor der Rente wieder ausreisen zu dürfen. Die Langzeitigen sind blaß, manche haben die typischen scharfen Falten zwischen Nase und Mund, die auf Magenkrankheiten hindeuten.
Überhaupt: mit der Gesundheit der Arbeitslosianer ist es nicht zum besten bestellt. Bei den Einreiseden aus dem Westen hat jeder vierte irgendein Zipperlein, unter den Bewohnern aus dem Osten jeder zehnte. Gesünder wird man in Arbeitslosien aber auch nicht. Wer vorher schon dem Alkohol zuneigte, greift in Arbeitslosien noch häufiger zur Flasche. Unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus dem Westen läuft hier jeder achte Gefahr, alkoholkrank zu werden. In den übrigen westlichen Bundesländern der Erwerbstätigen ist es dagegen nur jeder zwanzigste der jungen Einwohner.
Auch der tägliche Fernsehkonsum ist im 17. Bundesland ein bißchen höher als anderswo: Wer nicht arbeitet, schaut im Schnitt am Tag 181 Minuten in die Glotze. Bei den Erwachsenen in den übrigen 16 Bundesländern wird der Fernseher dagegen nach 164 Minuten abgestellt. Trotzdem gibt es auch in Arbeitslosien viele fleißige Bewohner. Wer wenigstens ein paar praktische Fähigkeiten beherrscht, kann sich nützlich machen. Die Küche der Nachbarin tünchen, am Auto des Bekannten herumbasteln. Allerdings werden diejenigen, die sich hier noch passabel durchwursteln, von den Grenzbehörden oft wieder abberufen. Es scheint, als dürfe es niemandem längere Zeit gutgehen in Arbeitslosien. Das ist die größte Angst der Regierung: daß sich die Menschen hier tatsächlich wohlfühlen könnten und dann am Ende noch freiwillig hier einreisen.
Aber so weit kommt es nicht, da sei das Geld vor. Knapp gehalten werden die Arbeitslosianer — und das vom Arbeitsamt monatlich überwiesene Geld wird auch noch weniger, je länger sie bleiben. 1.424 Mark Arbeitslosengeld bekommen durchschnittlich die Einwohner aus dem Westen. Wer aus dem Osten einreist, erhält nur 1.090 Mark. Der Bundesregierung danken sie es nicht: Bei Wahlumfragen entscheiden sich 49 Prozent für die SPD, 27 Prozent für die CDU/ CSU. Die Grünen/Bündnis 90 wollen nur zwei Prozent wählen, die PDS aber immerhin 16 Prozent.
Wer Arbeitslosien durchquert, trifft aber auch auf besser Gestellte: zum Beispiel den alten Herrn, der im kleinen Häuschen mit Garten zufrieden die Hecke schneidet. Er hatte immer genug eigenes Vermögen und mußte nie arbeiten. Freiwillig hat er sich in Arbeitslosien die schönste Ecke ausgesucht. „Privatier“ nannte man solche Leute früher. Heute sind sie hier aber nur eine sehr kleine Minderheit.
Die Mehrheit der Bewohner verläßt Arbeitslosien irgendwann. Wer ausreist, passiert dann wieder die Randgebiete um Arbeitslosien herum. Ein Niemandsland auf der Karte, in dem sich ABM-Kräfte verdingen oder Erwerbslose die Schulbank drücken. Immerhin 880.000 Menschen tummeln sich hier — und sie sind froh, die Grenze nach Arbeitslosien noch nicht überschreiten zu müssen.
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