: Wie eitel darf Entsetzen sein?
■ Wolf Biermanns Lesung von Jizchak Katzenelson: eine peinliche Selbstinszenierung
Weit reicht Wolf Biermanns Bescheidenheit. Weit bis hinter die Schmerzgrenze. Denn Wolf Biermann hält Wolf Biermann für unheimlich wichtig und den tollsten Dichter, den wir haben. Wer das bisher noch nicht wußte und aus Interesse für Jizchak Katzenelsons Shoa-Poem Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk am Sonntag ins Schauspielhaus kam, dem wurde es dort in einer derartig grotesken Manier um die Ohren gehauen, daß einem übel werden konnte.
Bereits in den Angelegenheiten „Arschloch Sascha“ und „Verräter Reich-Ranicki“, um nur die populärsten Fälle zu nennen, hat Biermann ja eindrücklich bewiesen, wie er sich über politisch-moralische „Skandale“ selbst eitel in Szene zu setzen vermag. Mit emotionalem Schwulst in christlichen Dimensionen und dem kindisch-gekränkten Unterton eines Menschen, der sich selbst für die moralische Instanz schlechthin hält, inszeniert sich Biermann bei jedem Auftritt als die letzte Lichtgestalt menschlicher Integrität, als das fleischgewordene Gewissen einer korrumpierten Gesellschaft.
So weit, so peinlich. Doch Biermann schafft es nicht einmal, bei der Übertragung und dem Vortrag eines Poems über den Holocaust auf seine gockelhafte, gezierte Selbstbespiegelung zu verzichten. Denn bevor die Rezitation des „einzigen Werkes, daß die Shoa adäquat erfaßt“ beginnen durfte, instrumentalisierte Biermann die Höflichkeit der anwesenden Juden für über eine Stunde zu Laudatien auf den Dichter – nicht etwa auf den 1944 in Auschwitz ermordeten Verfasser des Textes, sondern auf den in der Bühnenmitte thronenden Überträger. Und wer aus tatsächlicher Bescheidenheit nicht mitmachen wollte, wie Uri Aloni, Mitglied des Kibbuz der Warschauer Ghetto-Kämpfer, wurde von Biermann zur öffentlichen Schmeichelei genötigt. Da aber die langen Reden über die Leistung des Biermanns dem Biermann noch nicht auszureichen schienen, mußte er noch ein wenig Eigenlob über „mein Ding“ hinterherschicken: „Ich bin der Meinung, es ist sehr gelungen.“ Zusammen mit der „großen Hochachtung“, die der Ex-Kommunist dem Ex-Repräsentanten des deutschen Kapitalismus, dem direkt vor ihm sitzenden Richard von Weizsäcker aussprach, weil dieser sich angeblich „gewandelt und nicht nur gewendet“ hätte, ergab sich das schmerzliche Bild aus Selbstinszenierung, Anmaßung und Opportunismus der ersten Stunde in seiner ganzen Widerwärtigkeit.
Für alle, die der Meinung sind, daß die Zeugnisse des Holocaust kein zusätzliches Pathos mehr vertragen, wurden auch die folgenden zwei Stunden zu einem zwiespältigen Erlebnis. Denn Biermann kann von der Theatralik nicht lassen, und zwar umso weniger, umso entsetzlicher der behandelte Stoff ist. Schon in der Übertragung der jiddischen Verse in Deutsche wimmelt es von eigenmächtigen pathetischen Vokabeln und sein Vortrag der Hälfte der 15 „lieder“ steigert dies zur Show. Wimmernd, schreiend, spuckend, fuchtelnd verwandelte Biermann mit großen und blasierten Gesten die Beschreibung des Mordens und des Widerstandes im Warschauer Ghetto in ein Schauspiel der Erhabenheit. Nicht zugeschnürte Kehle sondern faustisches Deklamieren bestimmten den Klang seines „Großen Gesanges“. Daß zumindest die Hälfte des Publikums nach dieser Darbietung klatschte, anstatt über das Gehörte zu schweigen, hatte Biermann mit seinem Auftritt geradezu provoziert.
Ein Gutes hat Biermanns Eitelkeit dennoch: Weil er es nicht lassen konnte, die von ihm handschriftlich vollgekritzelte jiddische Vorlage in dem bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch im Faksimile abzubilden, kann man Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk auch im Original lesen und verstehen. Und das sollte man dann auch tun. Till Briegleb
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