: Drei Kessel Buntes für die Einheit
■ Vereintes Deutschland im Jahre 5: Ein würdiger Festakt in Bremens guter Stube, in Polizeikesseln gebändigte RandalierInnen auf den Straßen und volkstümliches Treiben um den Berliner Reichstag
Bremen (dpa/taz) – Begleitet von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten gingen gestern in Bremen die offiziellen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit über die Bühne. Während der Festakt im Bremer Congress Centrum mit den Reden von Bundespräsident Roman Herzog und dem polnischen Schriftsteller Andrzej Szczypiorski ohne demonstrative Beeinträchtigung verlief, kam es in der Innenstadt trotz eines generellen Demonstrationsverbotes und massiver Polizeipräsenz seit Sonntag immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen. Autonome hatten in der Nacht zum Montag Brandsätze gegen Autos geschleudert, Scheiben zerstört und einen Einkaufsmarkt geplündert. Gestern vormittag gegen elf Uhr zogen etwa 1.000 Demonstranten ins Zentrum Bremens, wo die Einheitsfeier fürs Volk stattfand. Ihre Parole: „Nie, nie, nie wieder Deutschland“. Erst nachdem sämtliche Scheiben der anliegenden Banken zu Bruch gegangen und Autos demoliert waren, hatte sich die Polizei zum Gegenangriff gesammelt. Unter Schlägen setzte sie den Flüchtenden nach und kesselte etwa 200 Menschen ein. Im Laufe der Feierlichkeiten wurden nach Polizeiangaben 250 Demonstranten festgenommen. Der Sachschaden betrage rund 250.000 Mark. Insgesamt elf Polizisten und eine Demonstrantin wurden verletzt. Mehrfach hielt die Polizei Demozüge in Kesseln fest. Insgesamt kamen in Bremen 2.500 Polizeibeamte aus der Hansestadt und umliegenden Bundesländern zum Einsatz.
Bundespräsident Roman Herzog forderte vor rund 1.800 Gästen im Congress Centrum dazu auf, nach 40 Jahren Trennung die Unterschiede im Denken von West- und Ostdeutschen nicht überzubewerten. Vielfalt sei stets die Stärke der Deutschen gewesen. „Einen wirklichen deutschen Einheitsstaat hat es schließlich nur zwölf Jahre lang gegeben, und das war die schlimmste Zeit unserer ganzen Geschichte.“ Herzog äußerte Verständnis für die Enttäuschung, die sich vier Jahre nach der Wiedervereinigung im Lande breit macht. Die Frage, um die es wirklich gehe, sei unverändert der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern.
Der polnische Schriftsteller und Philosoph Andrzej Szczypiorski erinnerte in seiner Rede beim Festakt noch einmal an den Mauerfall 1989 und an die Freude auch vieler Polen, nun eine Chance auf eine eigene Zukunft in Europa zu haben: „In der damaligen Zeit wußte fast jeder Pole, daß wir umzingelt waren. Die sowjetische Festung in der DDR trennte uns von Europa.“ Der Schriftsteller dankte „dem deutschen Volk dafür, daß es sich vereinigte, um für das vereinigte Europa der Zukunft zu arbeiten, um dieses Europa zu gestalten.“
Vor dem Festakt, an dem unter anderem auch Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, Bundeskanzler Helmut Kohl und SPD-Chef Rudolf Scharping teilnahmen, fand, ebenfalls unter massivem Polizeischutz, ein ökumenischer Gottesdienst statt. In Berlin demonstrierten gestern etwa 2.000 Menschen gegen die Einheitsfeiern, ein zweitägiges volkstümliches Treiben rund um den Reichstag samt Umzug interessierte immerhin noch 30.000 Berliner. Seiten 3 und 10
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