piwik no script img

Professor Raubtier

Wir Kinder von Nietzsche & Coca-Cola. Zum 150. Geburtstag des Philosophen der Gegenkultur  ■ Von Jörg Lau

In den zahlreichen Versuchen, die der junge Nietzsche unternahm, um sich und der Nachwelt über sein Leben und Wirken Rechenschaft zu geben, fehlt kaum einmal der Hinweis auf die glückliche Koinzidenz seines Geburtstags mit dem eines Größeren: „Ich wurde in Röcken bei Lützen den 15 Okt 1844 geboren und entpfing in der heiligen Taufe den Namen: Friedrich Wilhelm“, schreibt der Vierzehnjährige. Einige Seiten weiter in dem Aufsatz „Aus meinem Leben“ heißt es abwägend: „Das Geburtstagsfest ist mehr Familienfest, Weihnachten ist aber das Fest der gesammten Christenheit. Aber dennoch habe ich meinen Ehrentag sehr lieb. Da er mit dem Geburtstag unsers lieben Königs zusammenfällt, so werde ich des Morgens schon mit Militaermusik geweckt.“

Nietzsches bevorstehender hundertfünfzigster Geburtstag wird zwar nicht mit Militärmusik, sondern nur durch Kongresse, Publikationen und Feuilletonartikel wie diesen hier gefeiert. Aber den lieben König Friedrich Wilhelm IV. hat der Pfarrerssohn aus der Provinz locker überrundet: Man kann ruhig darauf wetten, daß dessen Geburtstag mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt werden wird. Aus dem politischen Totenkult der Bundesrepublik sind die deutschen Herrscher getilgt.

Es gehört zu den festen Ritualen jenes anderen Totenkultes, den wir Geistesgeschichte nennen, am Ende der Gedenkzeremonie auf die Aktualität dessen zu verweisen, der gerade Gegenstand der Pietät ist. Bringen wir es doch gleich zu Beginn hinter uns, mit einer kleinen Beobachtung zur allerjüngsten Rezeptionsgeschichte Friedrich Nietzsches. Sie stammt unpassenderweise aus dem „Kellerrestaurant“ des Brecht-Hauses in der Berliner Chausseestraße: Da saß neulich, zwischen den Theaterrequisiten aus historischen Aufführungen des Berliner Ensembles, ein Junge von schätzungsweise Anfang Zwanzig am Nachbartisch mit Freunden beim Bier. Er trug ein lila T-Shirt, auf dessen Rücken unter einem spiralförmigen Ornament ein faksimilierter Schriftzug zu lesen war: Nietzsche.

Ein solches T-Shirt hätte ich damals auch gerne besessen, als ich meinen ersten Nietzsche-craze hatte. Aber ich besaß nur eine Ausgabe von „Menschliches, Allzumenschliches“, ein Insel-Taschenbuch, mit fünfzehn oder sechzehn Jahren gekauft, und damit wedelte ich mächtig herum vor den anderen Jungs. In dieser Ausgabe sind besonders viele Stellen über „das Heilige“ und die „asketischen Ideale“ angestrichen. Woher dieses Interesse? Damals hatten wir Heilige werden wollen, daran lassen die Wegmarken der Lektüre keinen Zweifel. Worunter wir uns nicht so sehr den hl. Franziskus als vielmehr diese neueren Heiligen vorstellten, deren in den Fernsehnachrichten erzählte Legenden die Phantasie viel mehr anregten. Von den Erwachsenen wurden sie Terroristen genannt, aber wir bewunderten sie als Menschen, die Ernst machten und ihr Leben einsetzten, um gegen die verworfene Welt aufzubegehren, während die anderen nur redeten. Irgendwie schien die Welt damals in völliger Unordnung; etwas lief grundsätzlich schief und machte die Welt zu einem Ort, an dem sich nicht leben ließ. Es hatte natürlich mit der Fettlebe auf Kosten der Dritten Welt, der Atomenergie, Franz Josef Strauß, unerreichbaren Mädchen, dem Nato-Doppelbeschluß, der Inhumanität der Leistungsgesellschaft und der Abholzung der Regenwälder zu tun; und doch ließ sich dieser Sprung, den die Welt bekommen hatte, mit keinem der Punkte in dieser prinzipiell endlosen Mängelliste identifizieren. Schwer zu sagen, zu welchen Teilen sich in dem stechenden Weltschmerz Katholizismus, Pubertätsnöte und Gesellschaftskritik vermischten; nie wieder sind wir jedenfalls dem Zustand näher gewesen, den wir erst viel später bei einem berühmten Philosophen als „ungemildertes Bewußtsein der Negativität“ bezeichnet fanden.

Und dann waren da plötzlich Sätze wie diese: „Man gehe die einzelnen moralischen Aufstellungen der Urkunden des Christentums durch, und man wird überall finden, daß die Anforderungen überspannt sind, damit der Mensch ihnen nicht genügen könne; die Absicht ist nicht, daß er moralischer werde, sondern daß er sich möglichst sündhaft fühle. Wenn dem Menschen dies Gefühl nicht angenehm gewesen wäre, – wozu hätte er eine solche Vorstellung erzeugt und sich so lange an sie gehängt? [...] Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott über die eigene Natur, aus dem die Religionen so viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hierher: der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern.“ Der Heilige, der Asket wurde als Virtuose eines moralischen Masochismus entlarvt, der auch nur dem

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

Willen zur Macht, wenn auch auf Umwegen, diente: „Der Heilige erleichtert sich durch jenes völlige Aufgeben der Persönlichkeit [für das ihr die zeitgenössischen Heiligen des bewaffneten Kampfes doch gerade bewundertet] sein Leben, und man täuscht sich, wenn man in jenem Phänomen das höchste Heldenstück der Moralität bewundert. Es ist in jedem Falle schwerer, seine Persönlichkeit ohne Schwanken und Unklarheit durchzusetzen, als sich von ihr in der erwähnten Weise zu lösen.“

Auch die Lehre von der Geburt des Christentums aus Ressentiment, wie sie in der „Genealogie der Moral“ formuliert war, leuchtete sofort ein; man wollte den Mädchen auf deiner katholischen Schule verbieten, die neuen, weit ausgeschnittenen Blusen mit sogenannten „Spaghettiträgern“ anzuziehen. Kaum zu glauben, aber so muffig waren die heute so sonnig erscheinenden siebziger Jahre in diesem Winkel des katholischen Rheinlands. Nietzsche lesen war Rettung aus Katholizismus und Jugendirresein zugleich. Die Kritik der „asketischen Ideale“ war die treffende Analyse jenes leeren jugendlichen Idealismus bis zur Weltverneinung, dem die peer group seinerzeit huldigte. Die erste Freundin, die in diese Welt einschlug wie ein Meteorit, hatte am Ende des Wahns schließlich den größeren Anteil, aber der milde und menschenfreundliche Herr Nietzsche aus „Menschliches, Allzumenschliches“ hatte beim Ausstieg geholfen. Noch der einsiedlerische Unfug, den der nämliche schmalbrüstige, vor Kopf- und Magenschmerzen schier zerspringen wollende kleine Mann später über die „blonde Bestie“ schrieb, erschien dann im Licht der frühen Lektüre irgendwie verzeihlich.

Nicht unwahrscheinlich, daß schon die Vorrede dieses Buchs, das ja an „freie Geister“ adressiert war, den jugendlichen Leser sturmreif geschossen hat. Da klagt der Autor, „dergleichen ,freie Geister‘ gibt es nicht, gab es nicht, – aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nötig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, acedia, Untätigkeit): als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. Daß es dergleichen freie Geister einmal geben könnte [...], daran möchte ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam ...“ Wer konnte damit wohl gemeint sein, wenn nicht – du, Ex- Heiligenanwärter, dem der Zufall dieses Buch hundert Jahre nach seinem ersten Erscheinen in die Hände gespielt hatte?

Das war keine Idiosynkrasie; so liest man Nietzsche bis heute, oder man liest ihn eben nicht. Er mag noch so vieles mit Marx und Freud, den rivalisierenden Gründerfiguren des modernen Bewußtseins, gemein haben, das prophetische Pathos des „Unzeitgemäßen“ ist allein seine Erfindung und nicht das geringste Geheimnis seines Erfolgs. Bis heute hat diese Stilisierung eine Schulbildung verhindert, denn sie fordert einen Leser, der sich als solitärer Empfänger einer Flaschenpost empfindet. Theodor W. Adorno, den man mißverständlicherweise immer noch mehr als Marxisten denn als Nietzscheaner betrachtet, hat übrigens die Metapher der Flaschenpost – die ja auf das mit Max Horkheimer betriebene Unternehmen der „Dialektik der Aufklärung“ gemünzt war – in einem Stück der „Minima Moralia“ auch auf Nietzsche bezogen – ein Ehrentitel: Auch jener war, heißt es da, von der Hoffnung getrieben, „in der Flut der hereinbrechenden Barbarei Flaschenposten zu hinterlassen“.

Eines der aufschlußreichsten Bücher, die nun zum Jubiläum herausgebracht werden, beschreibt in drei kurzen Essays, wessen Flaschenpost Nietzsche selber empfangen hat. Der eigentliche Clou ist aber nicht die beeindruckende, alle Zeiten und Genres kreuzende Leseliste Nietzsches, sondern das Porträt seiner Art zu lesen. Ralph- Rainer Wuthenow beschreibt, wie Nietzsche als Leser vom philologisch geschulten Kenner der antiken Literatur und Philosophie zum Urbild des modernen Intellektuellen wird, der ja zu allererst ein nervöser, sprunghafter, schnell gelangweilter Allesfresser-Leser ist: „Nietzsche als Leser, das erkennt man rasch, ließ sich häufig von Zufällen leiten, ja er mußte dies sogar: ständig auf Reisen, auf oft sehr bescheidene Unterkünfte angewiesen, hatte er nicht einmal die eigene Handbibliothek jederzeit parat.“ Die Migräneanfälle und das Nachlassen der Sehkraft taten später das Ihre, um ihn immer wieder aus der Versenkung in die Lektüre herauszuholen.

Zwei neue Romane spinnen jene Phase im Leben Nietzsches aus, die am stärksten auf die Phantasie der Leser gewirkt hat: die Zeit nach dem Zusammenbruch in Turin 1889: Otto A. Böhmers „Der Hammer des Herrn“ erzählt Nietzsches Leben in Rückblenden, in Form von Heimsuchungen des Verrückten durch die Gespenster der Vergangenheit. „Und Nietzsche weinte“ von Irvin D. Yalom ist ein Kolportageroman, in dessen Zentrum eine riskante Konstruktion steht, eine von Lou Andreas- Salomé eingefädelte Behandlung Nietzsches durch den Nervenarzt Josef Breuer, der mit Sigmund Freud zusammen die „Studien über Hysterie“ veröffentlichte. Yalom präsentiert uns schlau das Missing link zwischen Psychoanalyse und Nietzsches Psychologie: Breuer liest Freud, der im echten Leben immer geleugnet hat, sich mit Nietzsche beschäftigt zu haben, aus der „Fröhlichen Wissenschaft“ und aus „Menschliches, Allzumenschliches“ vor. Das ist alles recht nett, selbst wenn Yalom reichlich ungelenk schreibt; aber darüber sollte nicht vergessen werden, daß es schon einen unschlagbaren Nietzsche-Roman gibt: „Der ängstliche Adler“, die große Biographie von Werner Ross, die jetzt noch einmal als Taschenbuch aufgelegt worden ist. Es ist ausnahmsweise nicht übertrieben, wenn dieses Buch als „spannend wie ein Roman“ beworben wird. Die Spannung entsteht aus der wunderbaren Balance im Zugriff. Ross ist ein Meister dessen, was die Soziologen die Methode von surrender and catch nennen – Hingabe und Zugriff. Der amerikanische Philosoph Alexander Nehamas, Autor einer vielbeachteten Nietzsche-Studie, hat einmal bekannt, daß ihn der „unglückliche kleine Mann, der Nietzsches Bücher schrieb, nicht interessiert“. Er sollte dringend den „ängstlichen Adler“ lesen; was Ross aus seinen kleinen Episoden macht, wie etwa der Szene, in der Nietzsche Wagner zum Vegetarismus zu bekehren versucht, ist durch keine noch so skrupulöse Interpretation von Nietzsches Texten zu ersetzen.

Wer die Nietzsche-Biographie von Werner Ross liest, bekommt vielleicht Lust, selbst in Nietzsches Schubladen zu wühlen. Eine neue Ausgabe der Jugendschriften gibt jetzt dazu Gelegenheit. Sie enthält autobiographische Schriften, Bücherlisten, Schulaufsätze, Tagebücher des Studenten, frühe philologische Arbeiten, Gedichte und Notizen. Man findet hier die altklugen Selbststilisierungen des Vierzehnjährigen, der über das Schwimmen schreibt, er „erachte“ es nicht nur „für angenehm sondern auch in Gefahren sehr nützlich und für den Körper sehr stärkend und erfrischend. Es ist Jünglingen nicht genug zu empfehlen.“ Wenige Seiten später notiert er: „Die Schwimmprobe habe ich noch nicht gemacht; ich fürchte mich immer vor Blamage.“ Als er die Probe bestanden hat, tritt kurz Erleichterung ein, aber: „Gott behüte mich, daß mir bei der heutigen Schwimmfahrt nichts passiert.“ Man findet die rührenden Klagen eines einsamen Kindes, das von sich selbst behauptet, „in meinem jungen Leben schon sehr viel Trauer und Betrübniß gesehn“ zu haben – womit vor allem das frühe Sterben des Vaters an „Gehirnerweichung“ gemeint ist –, darüber ernst geworden und eben wegen dieses Ernstes von den Mitschülern geneckt worden zu sein. Man findet einen Tagebucheintrag, in dem dieses ernste und überangepaßte Kind sich schwere Sorgen darum macht, daß das Fehlverhalten seiner Klasse – ausgelassenes Lärmen und Trampeln – „als ein Zeichen von heftigen Oppositionsgeist in der Klasse“ ausgelegt werden könnte. Man findet ein Prosastück des Achtzehnjährigen („Euphorion Cap I.“), in dem postpubertäre Sexnöte zu einer Décadence-Phantasie ausgesponnen werden: „Mir gegenüber wohnt eine Nonne, die ich mitunter besuche, um mich an ihrer Sittsamkeit zu erfreuen. Sie ist mir genau bekannt, von Kopf bis zur Zehe, genauer als ich mir selber.“ Auch dies Fundstück ist eher rührend als empörend, wie es wohl gedacht war, zumal der dekadente Held „an der Rückenmarksdarre“ leidet und ihm bezeichnenderweise die „Hand zittert“.

Und dann stößt man auf die ersten Notizen, die den großen Zerstörer Nietzsche ahnen lassen, auf die Arbeitsmaximen eines hochbegabten jungen Philologen von 23 Jahren, der seine Wissenschaft schon satt hat: „Das Wiederkäuen muß aufhören. Vor allem aber bringe man das zügellos umschweifende Geschichtsunwesen in seine Grenzen. Die Menschheit hat mehr zu thun als Geschichte zu treiben.“ Damit beginnt die Revolte gegen den Würgegriff der Vergangenheit am Hals der Gegenwart, in deren Verlauf Nietzsche zu einem Philosophen der „Gegenkultur“ wurde, wie Gilles Deleuze 1973 schrieb.

Es mag damals verwundert haben, daß Nietzsche, den man in Deutschland immer noch vorwiegend als Wegbereiter des Faschismus, als „Zerstörer der Vernunft“ verstand, von Deleuze in blumigen Worten als Hippie-Philosoph vorgestellt zu sehen. Vielleicht wird die Sache plausibler, wenn man den Begriff der Gegenkultur etwas weiter faßt. Denn Nietzsche ist der geheime Patron einer jeden Revolte, die im Namen des „Lebens“ gegen das „Philistertum“ antritt, gegen „erstarrte Strukturen“, gegen das einschnürende „Korsett der Zivilisation“. Von Nietzsche stammt der Satz, daß wir „erst aus dem Geiste der Musik heraus eine Freude an der Vernichtung des Individuums verstehen“. Das war auf die dionysische Kunst Richard Wagners gemünzt, aber wir dürfen dabei natürlich auch an Rave-Partys, stage-diving und Pogotanz bei Oi-Konzerten denken. Und gehört nicht auch dies zum Credo der Gegenkultur: „Gesetzt daß es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als ,Wahrheit‘ geglaubt wird, daß es eben der Sinn aller Kultur sei, aus dem Raubtiere ,Mensch‘ ein zahmes und zivilisiertes Tier, ein Haustier herauszuzüchten, so müßte man unzweifelhaft alle jene Reaktions- und Ressentiment-Instinkte [...] als die eigentlichen Werkzeuge der Kultur betrachten; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, daß deren Träger zugleich auch selber die Kultur darstellten. [...] Diese ,Werkzeuge der Kultur‘ sind eine Schande des Menschen, ein Gegenargument gegen Kultur überhaupt.“ In dieser wütenden antizivilisatorischen Attacke aus der „Genealogie der Moral“ steckt übrigens der Keim von Norbert Elias' Theorie über den „Prozeß der Zivilisation“. Elias ist der Anti- Nietzsche, seine Soziologie läßt sich als Umwertung der Werte Nietzsches verstehen. Interessanterweise geht er von den gleichen Annahmen aus wie Nietzsche, auf den er sich gleichwohl nie explizit beruft. Elias streicht gegen die von Nietzsche betonten Kosten der zivilisatorischen Abrichtung der Bestie Mensch die Vorteile heraus, er zeigt, welche kulturbildenden Kräfte durch die Affektkontrolle freigesetzt wurden und welche Annehmlichkeit die Eindämmung des Willens zur Macht durch Zwang zum Selbstzwang, die Tabuisierung plötzlicher Gewaltausbrüche – zumal für schmächtige Professoren und andere dem Raubtierdasein entfremdete „Werkzeuge der Kultur“ –, bedeutet.

Noch ein letztes Beispiel: Es läßt sich kein präziseres Psychogramm der Erstsemester-Verzweiflung denken als die Schrift „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Es mag gute Gründe geben, Nietzsches Polemik auf seine Zeit und seine Wissenschaft, die Klassische Philologie, hin zu lesen, aber solche Sätze sind von überhistorischer Gültigkeit: „Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln.“ Totes Wissen! Wer soll das alles lesen! „Seine [des modernen Menschen, J.L.] Ehrlichkeit, sein tüchtiger und wahrhaftiger Charakter muß sich irgendwann einmal dagegen sträuben, daß immer nur nachgesprochen, nachgelernt, nachgeahmt werde; er beginnt dann zu begreifen, daß Kultur noch etwas anderes sein kann als Dekoration des Lebens, das heißt im Grunde doch immer nur Verstellung und Verhüllung. So entschleiert sich ihm der griechische Begriff der Kultur [...] – der Begriff der Kultur als einer neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Außen, ohne Verstellung und Konvention, der Kultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen.“

Ja, ungefähr so wie der unglückliche kleine Mann, der Nietzsches Bücher schrieb, sich den „griechischen Begriff der Kultur“ zurechtgelegt hat, haben wir uns einmal die authentische Gegenkulturwelt in ihrer wiedergewonnenen Unschuld vorgestellt. Und darum ist es verwunderlich, daß uns noch niemand die Kinder von Nietzsche und Coca-Cola genannt hat.

Friedrich Nietzsche: „Frühe Schriften“. Fünf Bände in Kassette. Verlag C. H. Beck, 2909 Seiten, geb., 298 DM (identische dtv- Taschenbuchausgabe 148 DM)

Werner Ross: „Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben“. dtv, 830 Seiten, 29,90 DM

Otto A. Böhmer: „Der Hammer des Herrn“. Roman, Eichborn Verlag, 364 Seiten, geb., 48 DM

Irvin D. Yalom, „Und Nietzsche weinte“. Roman. Kabel Verlag, 380 Seiten, geb., 46 DM

Ralph-Rainer Wuthenow: „Nietzsche als Leser. Drei Essays“. Europäische Verlagsanstalt, 128 Seiten, geb., 26 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen