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Viele gute Gründe, „verrückt“ zu werden

■ Die Anforderungen, die heute an Frauen gestellt werden, sind vielfältig und widersprüchlich. Kein Wunder eigentlich, daß so manche innerlich zerreißt.

Die Frauen mit multipler Persönlichkeitsspaltung „verkörpern“ in einer dramatischen Zuspitzung ein Überlebensmuster, das Frauen wählen, um ihren Alltag zu bewältigen. Doch ihre Geschichte ist nur die Spitze des Eisbergs. „Das Bild der erfolgreichen Frau“, so der Verein Wildwasser Bielefeld in der Kongreßbroschüre, „die in allen sozialen Rollen eine gute Figur macht und kontroversen Erfolgsanforderungen flexibel-mutipel antwortet“, rühre auch in weniger dramatischer Form an Existenzgrenzen.

Medien und Werbung vermitteln permanent ambivalente Botschaften. Wir sehen Frauen, die mit Spülmitteln, Staubsaugern und imaginären Männern wie Meister Propper reden und fröhlich den Boden schrubben, um den Lieben ein schönes Heim zu bereiten. Gleichzeitig werden wir konfrontiert mit der qualifizierten Karrierefrau, die neben ihrem Job noch Zeit findet, kalorienarme Joghurts zu kaufen (und zu essen) und das Haarspray zu finden, das ihrer Frisur besten Halt bietet. Diese miteinander konkurrierenden Ansprüche und Lebensentwürfe haben die meisten Frauen stärker verinnerlicht, als ihnen lieb beziehungsweise bewußt ist.

Unvereinbare Anforderungen vereinbar zu machen, auch wenn sie innerlich daran zerreißen – das kostet viel, und diese Kosten werden psychologisch ausgetragen. „Zur Normalität gehört“, erklärt Soziologin Kornelia Hauser, die 14 Jahre über Frauen und Angst forschte, „nicht aufzufallen. Und so sieht auch die verbreitete Strategie von Frauen aus.“

Die Anpassung an die Normalität führt bei vielen Frauen zum berüchtigten Griff zur Glückspille – die unerwünschten Gefühle wie Depressionen, Ängste und Hemmungen verschwinden. Doch wenn Gewalterfahrungen in der Kindheit hinzukommen, helfen Psychopharmaka allein nicht. Es kommt zu weiteren psychischen und psychosomatischen Störungen: Bulimie, Magersucht, Menstruationsbeschwerden, heftigen Kopfschmerzen, Todessehnsüchte, manische Depressionen, Borderline, Neurosen, Psychosen, Schizophrenie.

Wenn Frauen mit ihrer „Störung“ oder „Erkrankung“ nicht fertig werden, suchen sie TherapeutInnen auf. „Und die Chancen, verstanden zu werden“, so Kerstin Kemker, die sich im Europäischen Netzwerk von Psychiatriebetroffenen engagiert, „sinken mit der Zunahme der sozialen und kulturellen Unterschiede.“ Je mehr TherapeutInnen die Klientin verstehen, desto eher werde sie für therapiefähig erklärt – andernfalls drohen ihr Diagnosen wie Schizophrenie oder Psychose und die Einweisung in die Psychiatrie. So sei nach einer Studie in den USA Schizophrenie bei schwarzen Frauen die häufigste, bei weißen Frauen die seltenste psychiatrische Diagnose – ein Urteil, das beinahe zwangsläufig psychiatrische Behandlung nach sich zieht.

Ob Psychiatrie, in der die Lösung oft nur mit Hilfe von Psychopharmaka gesucht wird, oder Psychotherapie, in der ein Ausweg therapeutisch erarbeitet wird – beide Ansätze beantworten Konflikte individuell und lassen die gesellschaftlichen Strukturen, die psychische oder psychosomatische „Störungen“ ermöglichen, außer acht. „So wird die Familie“, kritisiert die Soziologin Hauser, „die doch die Form ist, in der solche Übergriffe passieren, unangetastet gelassen.“ Das Projekt von Frauen, Gesellschaft zu verändern, wird so ersetzt durch das Projekt, Frauen durch Therapien zu verändern und sie somit „gesellschaftsfähig“ zu machen. Therapien übernehmen häufig, so Susanne Kappeler in ihrem neuen Buch „Der Wille zur Gewalt“ (1994), eine Schlüsselfunktion in der Stabilisierung der Gesellschaft und der politischen Ordnung – auch unter feministischen Psychotherapeutinnen. Es zeige sich auch hier die Tendenz, „Frauen eine Kur auf der Couch als logischen Fortschritt der Selbstbefreiung“ zu empfehlen.

Auf dem MPS-Kongreß ging es deshalb sowohl um fachspezifischen Erfahrungsaustausch über MPS als auch um die politisch unbedarfte Therapie- und Diagnosegläubigkeit, die zunehmend den Berufsalltag auch in feministischen Therapien und Beratungen bestimmt. Die Inhalte, die in den Therapien bearbeitet werden, mußten in die Politik umgesetzt werden. Und die Zeichen der Zeit stehen nicht schlecht, meint Kornelia Hauser: „Wir befinden uns gesellschaftlich im Umbruch, in den wir uns einmischen können. Es muß deutlich werden, daß eine zivile Gesellschaft ohne Geschlechterdemokratie und Kinderrechte nicht möglich ist.“ Margarete Wohlan

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