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Die Preisträgerkuh im Kostüm

„Rasender Stillstand“: Dromologische Zirkusszenen im Fliegenden Theater  ■ Von Petra Brändle

Zustandsbeschreibung. Vorher: abgehetzt vom tagelangen Sprint durch den großstädtischen Informations-Overkill; Wiedergabe des Erlebten: quasi unmöglich. Danach: beschwingt und beruhigt vom sich allmählich einstellenden Stillstand. Wiedergabe dieses Erlebnisses: folgt.

„Rasender Stillstand“ heißt das Stück nach Virilios gleichnamigem Buch, inspiriert ist das Stück des „Fliegenden Theaters“ jedoch gleichermaßen von Sten Nadolnys Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Nach Virilio wäre die Verarbeitung der Einzelinformation „Theaterstück“ nicht möglich, sondern ginge in der allgemeinen Informationsflut unter. Wesentlich dabei: Die Botschaft bewegt nichts mehr, weil sie gar nicht erst registriert wird. Auf die Bühne übersetzt heißt das: Schillers Aufklärungsversuch vom Theater als moralischer Anstalt hat sich endgültig überlebt.

À la Virilio rasen dann die drei Schauspieler und zwei Schauspielerinnen zu Beginn nach ihrem eigenen Takt in Kreisen über die Bühne. Jede/r für sich, jede/r verbogen, gekrümmt, hinkend. Sonderlinge, die Sonderbares sinnlos tun: Sie schlagen Tasten auf dem Klavier an, zupfen einzelne Cellosaiten, rechnen unentwegt und halblaut murmelnd vor sich hin.

Sie sind Marionetten der Zeit, die von einem Conférencier dirigiert werden. Eine Zirkusprinzessin mit Federn im Haar rattert auf ein Stichwort Ereignisse, Orte und Freizeitgestaltungsmöglichkeiten herunter: eine Dressur im Act- und Namedropping. Außerdem treten auf: die Preisträgerkuh aus der Rinderleistungsshow, aufrecht gehend, in einem hinreißenden Kostüm, an dem das Euter zwischen den Beinen plaziert ist, sowie ein Professor, der anhand magischer Spielmäuse das Darwinsche Prinzip mit dem Holzhammer erklärt. Auf ein Klatschen hin stolpern Finger immer wieder in rasendem Tempo über Klaviertasten – der „Flohwalzer“ ist gerade noch zu erkennen.

Die Inszenierung ist eine Szenencollage in Zirkusatmosphäre, die das Leistungsdenken der heutigen Zeit in antiquiertem Ambiente präsentiert und dabei unmerklich die Zeit anhält. Dem Geschehen geht wahrlich die Luft aus, worauf sich eine Dichte und Präsenz einstellt, die sich brennpunktartig einprägt – ganz so wie Nadolnys John Franklin die Welt erfaßt, wenn er sie denn festhalten kann. Eingebrannt wird beispielsweise das Bild, das Christine Zwarft in einer Zwangsjacke mit unendlich langen Ärmeln zwischen die Bühnenausgänge spannt – metaphorisch zerrissen von den Anstrengungen der Zeit. Ein Spannungszustand, den Rudolf Schmid, Schauspieler und Künstlerischer Leiter des „Fliegenden Theaters“, einfach „übergeht“. Auf den Ärmeln der Zwangsjacke balancierend überquert er seiltänzerisch die Bühne.

Diese malerische und zauberhafte Leichtigkeit charakterisiert das Stück, unterstützt wird sie von einer distanzierten Spielweise, die an die schwerelosen Bewegungen von Marionetten erinnert. Wie es schließlich dazu kommt, daß ein Nashorn Tango zu tanzen versucht, sollte man sich selbst ansehen. Petra Brändle

„Rasender Stillstand“ nach Paul Virilio und Sten Nadolny; Regie: Carolyn Oberlaner; mit Bernd Raucamp, Ulrike Schladebach, Rudolf Schmid, Stefan Wiesner und Christine Zarft; weitere Vorstellungen noch bis 12.11., Do.–Sa. 20 Uhr, Fliegendes Theater, Hasenheide 54, Neukölln.

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