Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

Wo Korruption selbstverständlich ist, können Wirtschaftsreformen nicht durch Appelle an die Vernunft durchgesetzt werden. Venezuelas Präsident Caldera versteckt daher seine Reformen hinter seinem Image als Volkstribun  ■ Aus Caracas Ralf Leonhard

Der südamerikanische Befreiungsheld Simón Bolivar dürfte sich im Grab umdrehen. Die nach ihm benannte Währung Venezuelas, einst die härteste ganz Lateinamerikas, hat in wenigen Monaten 70 Prozent ihres Wertes verloren. In den Krankenhäusern protestiert das Personal mit Streiks gegen das Ausbleiben von Medikamenten. Angestellte der staatlichen Fluggesellschaft Aeropostal besetzten Ende September die Landepiste des internationalen Flughafens von Caracas, weil sie den Bankrott des Unternehmens nicht hinnehmen wollen. Symptome der Krise eines Wachstumsmodells, das eine selbst für Lateinamerika einzigartige Raubbrüderschaft zwischen Staatsfunktionären und Privatunternehmern hervorgebracht hat.

US-amerikanische Publikationen führen Venezuela hinter Nigeria an zweiter Stelle in der Liste der korruptesten Länder der Erde. Diesen fatalen Ruf versucht die seit acht Monaten amtierende Regierung des Landes loszuwerden. Doch der im Dezember gewählte „Saubermann“ und Politveteran Rafael Caldera trat seine zweite Präsidentschaft am 2. Februar unter keinem günstigen Stern an. Wenige Wochen vorher war mit der Banco Latino die zweitgrößte Privatbank des Landes zusammengebrochen und hatte zugleich das Ausmaß der Korruption im privaten Bankenwesen offengelegt. Die Liquiditätskrise war wenige Monate nach der Amtsenthebung des langjährigen Präsidenten Carlos Andres Perez im Mai 1993, dessen schützende Hand die Machenschaften des Geldinstituts gedeckt hatte, öffentlich geworden.

Die Banco Latino hatte an eigens gegründete Schattenfirmen ihrer Direktoren und Manager großzügige Kredite ohne adäquate Garantien vergeben. Auch die Armee, die ihr Kapital mit 80prozentiger Verzinsung (bei damals 20 Prozent Inflation) über die Banco Latino in Spekulationsgeschäften angelegt hatte, durfte an diesem Füllhorn mitnaschen. Die staatliche Aufsichtsbehörde, der es nicht entgehen konnte, daß Hunderte Millionen Dollar nicht investiert, sondern auf Auslandskonten verschoben wurden, drückte jahrelang beide Augen zu. Zentralbankchef Pedro Tinoco, ein Intimus des Präsidenten und vormals Direktor der Banco Latino, starb ausgerechnet während des Amtsenthebungsverfahrens gegen Perez „an Krebs“ in Houston, Texas. Gerüchte, er habe zur Pistole gegriffen, wollen seither nicht mehr verstummen.

Geld aus der Geheimschatulle

Carlos Andres Perez stolperte 1993 aber nicht über diesen Bankenskandal, sondern über die vergleichsweise lächerliche Veruntreuung von 17 Millionen Dollar aus der sogenannten Geheimschatulle, die dem Staatsoberhaupt ohne Abrechnungspflicht zur Verfügung steht. Perez, der schon nach seiner ersten Amtszeit (1974–1979) im Forbes-Magazin als einer der reichsten Männer des Kontinents geführt worden war, hatte die Gelder diesmal vermutlich nicht in die eigene Tasche gesteckt. Statt dessen nutze er sie, um sich gegenüber den karibischen Kleinstaaten als Staatsmann zu profilieren und in Nicaragua Violeta Chamorros Wahlkampf gegen die Sandinisten zu finanzieren.

Sein Abstieg hatte aber schon lange vor den Untersuchungen der Justiz begonnen – nämlich als er unmittelbar nach Antritt seiner zweiten Amtsperiode 1989 ein neoliberales Wirtschaftsprogramm verkündete, das spontane Demonstrationen in Caracas auslöste. Die Venezolaner hatten Perez zwar wiedergewählt, weil sein Name aus der ersten Amtszeit untrennbar mit der Ära des Ölreichtums verbunden war. Drei Jahre später, am 4. Februar 1992, war aber keiner auf die Straße gegangen, um die Demokratie gegen einen Militärputsch nationalistischer Offiziere zu verteidigen. Im Gegenteil: Putschistenführer Hugo Chavez, der dank einer Amnestie der neuen Regierung vor kurzem freikam, wurde seither zu einer der populärsten Figuren des Landes.

Das Prestige der Putschisten hat die venezolanische Demokratie, die bis dahin als die solideste Südamerikas galt, in ihren Grundfesten erschüttert. Es war der greise Senator Rafael Caldera, Mitbegründer der christdemokratischen COPEI und Ex-Präsident (1969 bis 1974), der damals in einer Rede den hohlen Charakter der Demokratie anprangerte und dem politischen Establishment erklärte, daß die Putschisten die Stimmung im Volk besser verstünden als die Regierenden.

Das Ende der Gesellschaft der Neureichen

Es mag als eine Art historische Gerechtigkeit betrachtet werden, daß derselbe Carlos Andres Perez, der in den 70er Jahren den unverhofften Ölreichtum verpraßt und in unproduktive Prestigeprojekte gesteckt hatte, Anfang der 90er den Zusammenbruch der Überflußgesellschaft im Gefolge des Ölpreisverfalls verwalten mußte. Die Venezolaner hatten sich an das leichte Geld, den schnellen Dollar, zu sehr gewöhnt, als daß sie Austeritätsprogramme, wie sie in anderen Staaten gang und gäbe sind, akzeptiert hätten.

Venezuela war jahrelang eine Gesellschaft von Neureichen, in der nicht nur der Jet-set, sondern auch mittlere Angestellte den Shopping-Trip nach Miami zu den fundamentalen Menschenrechten zählten. Von den 20 Millionen Venezolanern sind 1,2 Millionen im öffentlichen Dienst angestellt. Familien mitgerechnet, lebt also ein Viertel der Bevölkerung direkt vom Staat. Stattliche Gehälter und großzügige Pensionsprogramme machten die venezolanischen Staatsdiener zu einer privilegierten Klasse. Und auch die Unternehmer arbeiten nicht mit eigenem Kapital und Risiko, sondern halten es für eine Selbstverständlichkeit, daß ihnen der Staat das Kapital zur Verfügung stellt und mögliche Verluste ersetzt. Eine Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialforschungsinstituts Cendes hat ergeben, daß von jedem von der Privatwirtschaft investierten Dollar 92 Cent von der Regierung zugeschossen werden: über nicht rückzahlbare Kredite, Energiesubventionen, Steuererleichterungen und Zollbefreiungen.

In Krisenzeiten mußte das System ins Wanken geraten. Nach der Banco Latino fielen weitere acht Geldinstitute wie Dominosteine um, die Regierung mußte neun Milliarden Dollar zuschießen, um einen Kollaps des Finanzsektors zu vermeiden. Offensichtlich naiv – denn die Banker verwandelten die Hälfte der Stützungsgelder flugs in Dollar und schafften sie ins Ausland, wohin sie ihnen inzwischen gefolgt sind.

Kein einziger Banker konnte bisher für diese betrügerischen Machenschaften zur Rechenschaft gezogen werden. Calderas neue Regierung aber ist um rund 9 Milliarden Dollar ärmer – 15 Prozent des vorgesehenen Haushalts. Freddy Munoz, Senator der mit Caldera verbündeten „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS), spricht von einem „Dolchstoß gegen die venezolanische Wirtschaft“.

Der von seiner eigenen Partei verstoßene Rafael Caldera, der im Dezember 1993 mit einer Mehrheit von nur knapp 30 Prozent als Kandidat einer bunten Koalition von Kleinparteien zum Präsidenten gewählt wurde, ist ein alter Fuchs mit unerhörtem politischem Spürsinn. Er hat es verstanden, seine Popularität mit populistischen Maßnahmen noch zu steigern. So drückte er sich um die Einführung der Mehrwertsteuer, indem er die Abgabe als Großhändlersteuer deklarierte und per Dekret anordnete, daß diese auf den Rechnungen für den Endverbraucher nicht ausgewiesen wird. Der Konsument kann ohnehin nicht erkennen, ob die Teuerung der rapiden Entwertung des Bolivar oder der Steuer zuzuschreiben ist. Als konsequenterweise die Inflation hochschnellte, ließ Caldera Haftbefehle gegen eine Anzahl von Unternehmern ergehen, die den Preisstopp für Grundbedarfsprodukte mißachtet hatten.

Um der Wirtschaftskriminalität Herr zu werden, setzte Caldera im Juni eine Reihe von verfassungsmäßig garantierten Grundrechten außer Kraft, darunter die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Freizügigkeit und das Recht auf Eigentum. Und als der von der Opposition beherrschte Kongreß die Einschränkungen tags darauf für null und nichtig erklärte, wagte Caldera die Kraftprobe, indem er die Grundrechte neuerlich suspendierte. Wenn die Parteien nicht einverstanden seien, werde er die Bevölkerung in einem Referendum vor die Alternative stellen, den Präsidenten abzuberufen oder das Parlament aufzulösen.

Ein Referendum war jedoch gar nicht nötig. In wenigen Tagen hatten die Medien die Stimmung im Volk sondiert und über 90 Prozent Zustimmung für die autoritären Maßnahmen Calderas geortet. Blitzschnell wechselte die „Accion Democratica“, die größte Oppositionspartei, das Lager und stimmte nun für den wirtschaftlichen Ausnahmezustand. Seither ist sie die wichtigste Stütze der Minderheitsregierung. Die Folge: Nach dem Treffen des Staatschefs mit der AD-Spitze konnte sich Ex-Präsident Jaime Lusinchi ins Ausland absetzen – gerade noch rechtzeitig, um einem Haftbefehl wegen Amtsmißbrauchs zu entgehen. Gegen den AD-Parteichef Luis Alfaro Ucero, dem Steuerhinterziehung im großen Still nachgesagt wird, wurde nicht einmal eine Untersuchung eingeleitet.

„Warum sollen wir Steuern zahlen?“

Als sich bereits 60 Prozent des privaten Bankkapitals unter der Kontrolle des Staates befanden, wurde eine strenge Devisenkontrolle verhängt. Gleichzeitig begannen Polizeimaßnahmen gegen mutmaßliche Wirtschaftskriminelle. Unter den mehr als 9.000 Personen, die seit der Suspendierung der Grundrechte in Razzien festgenommen worden sind, war kein einziger Banker und kein hoher Politiker – wie Pablo Medina, der Vorsitzende der linken Causa R, verbittert feststellt.

Am 12. September schließlich präsentierte Planungsminister Werner Corrales der Öffentlichkeit sein lange angekündigtes strategisches Stabilisierungs- und Wiederbelebungsprogramm mit dem anspruchsvollen Untertitel „Vom Rentenstaat zum Produktivstaat“, mit dem er die Abhängigkeit Venezuelas vom Erdöl zu vermindern und seine Landsleute zum Zahlen ihrer Steuern zu erziehen versprach. Wurden bisher nur 1,6 Prozent des Bruttosozialprodukts durch direkte Steuern aufgebracht, so hofft der oberste Wirtschaftsplaner durch verbesserte Erfassung und strengere Kontrollen die Quote dieses Jahr schon auf über zwei Prozent und mittelfristig auf sieben Prozent zu steigern.

Damit läge Venezuela noch immer um 50 Prozent unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt. „Warum sollen wir Steuern zahlen? Wir haben doch Öl“, argumentieren die meisten Venezolaner, wenn sie zur Kasse gebeten werden. Erste Erfolge seien jedoch bereits abzusehen, versicherte Corrales im Gespräch mit der taz. Und auf die Entscheidung hin, den bisher für Auslandskapital verbotenen Erdölsektor für Joint-ventures zu öffnen, hätten mehrere große Firmen aus den USA, Europa, Japan und Korea bereits Interesse gezeigt. Der neue Wirtschaftsplan – das unterscheidet ihn von den Plänen der vorangegangenen Regierung – trifft allgemein auf Zustimmung. Corrales hat ihn vorsichtshalber mit allen Parteien, den Gewerkschaften, der Bischofskonferenz und den Streitkräften abgestimmt. Sowohl die Parteien – mit Ausnahme der Causa R, die eine gezielte Förderung der verarbeitenden Industrie und ein Moratorium der Schuldenzahlungen fordert – als auch die Wirtschaftsbosse sind voll des Lobes. Sogar die Streichung der Subventionen und die Erhöhung des Treibstoffpreises, die vor fünf Jahren blutige Unruhen in Caracas ausgelöst hatten, dürften diesmal auf keinen Widerstand stoßen. Denn sie werden wegen des negativen psychologischen Effekts und der enorm inflationstreibenden Wirkung nicht über Nacht durchgezogen, sondern behutsam angekündigt und schrittweise vollzogen. Ein Liter Benzin kostet derzeit weniger als 5 Pfennig. Die Ober- und Mittelschicht, die dicke Straßenkreuzer als Statussymbole kultiviert, wird zur Kasse gebeten, während der öffentliche Transport bis zur Umrüstung auf billigeres Flüssiggas Ausgleichsbons beziehen soll.

Obwohl ohne Zweifel die kleinen Konsumenten in den letzten Monaten noch mehr an Kaufkraft verloren haben, ist der soziale Friede vorerst wiederhergestellt. Die Inflation wurde gebremst, und die Devisenreserven haben sich von sechs Milliarden wieder auf über zehn erhöht. Politische Opposition gibt es kaum: AD ist kooptiert, COPEI hat die besten Leute an die Koalition Calderas verloren, und die Linke ist entweder eingebunden (MAS und KP) oder in ihren eigenen Widersprüchen verheddert, wie die Causa R, die in mehreren Bundesstaaten die Gouverneure stellt, aber im Parlament keine eigene Linie findet.

Mit Putschplänen der Militärs rechnet derzeit niemand. Hugo Chavez, der Putschistenführer vom 4. Februar 1992, ist mit seinen billigen nationalistischen Parolen zwar landauf, landab unterwegs, um mit radikalen Studentengruppen und rebellischen Offizieren zu konspirieren; aber derzeit stellen Chavez und Konsorten keine ernste Bedrohung für die Stabilität dar. Doch wenn die wirtschaftliche Talfahrt nicht gebremst wird, könnten militärische Scharlatane einmal mehr den Volkszorn für ihre Zwecke kanalisieren und in Venezuela nach über 36 Jahren wieder eine Diktatur errichten.