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Der Surf der Armen

■ Chico Buarque, Mitbegründer des "Tropicalismo", über Brasilien nach der Wahl und die andere Seite der Musik

Bekannter ist er als Sänger. Mit Caetano Veloso und Gilberto Gil gehört Chico Buarque zu den bekanntesten Musikern des „Tropicalismo“, der Weiterentwicklung des Bossa Nova aus den Sechzigern. Der Tropikalismus bemüht sich um das musikalische Erbe der vergessenenen Ethnien und Regionen des Landes – was Buarque naturgemäß nicht nur Freunde verschaffte. Nach dem Putsch von 1964 zwang die brasilianische Militärregierung ihn zu einem zweijährigen Exil in Italien. Zurückgekehrt, bekam er es immer öfter mit der Zensur zu tun. Buarque wurde unter dem Druck zum Alkoholiker. 1992, als der erste demokratisch gewählte Präsident Brasiliens, Collor de Mello, der Korruption überführt und seines Amtes enthoben war, veröffentlichte er in diese kritische Situation hinein seinen Roman „Der Gejagte“ – die Geschichte eines alptraumartigen Umherirrens durch ein verkommenes Rio. Der Roman, der jetzt bei Hanser auf deutsch erschienen ist, führte in Brasilien monatelang die Bestsellerlisten an. Nicht ganz so düster wie „Der Gejagte“ ist „Para Todos“ Buarques neue Platte, die nach vierjähriger Pause Anfang des Jahres erschienen ist. Das Gespräch führte Stefan Fuchs.

taz: Sie sagen selbst, daß Ihr ursprüngliches Medium die Literatur war. Der unerwartete Erfolg, den Sie als Sänger und Komponist hatten, ließ Ihnen dann aber keine Zeit mehr zum Schreiben. Was hat Sie bewegt, nun auf diese Weise zur Literatur zurückzukehren?

Chico Buarque: Ich habe es wieder mit der Literatur versucht, weil ich mit meiner musikalischen Arbeit einfach unzufrieden war. Meine musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten erlaubten mir nicht, den lakonischen Ton zu treffen, der meine Lebenserfahrung in den letzten Jahren prägte. Texte, die für die Vertonung geschrieben werden, sind einerseits abhängig von der Musik, andererseits können ästhetische Schwächen dadurch ausgeglichen werden. In „Der Gejagte“ dagegen ist die Sprache autonom, stellt die sprachliche Gestaltung den einzigen Maßstab für das Gelingen dar.

In „Der Gejagte“ wird vor allem die brasilianische Oberschicht dargestellt – mit all ihren anscheinend überflüssigen und lächerlichen Beschäftigungen. Sie wohnt in militärisch bewachten Wohnghettos und hat ständig Angst vor Überfällen. Wie gelingt es dieser Schicht, trotz ihrer Ineffizienz und Schwerfälligkeit Herrscher über das Land zu bleiben?

Diese Menschen leben völlig abgehoben von der Alltagswirklichkeit der Brasilianer. Die von der harten Klassenstruktur der brasilianischen Gesellschaft Ausgeschlossenen versuchen natürlich irgendwie, in diese Schicht aufzusteigen, sich anzupassen. Die Mehrheit der Ausgeschlossenen aber wird von den Happy Few bewußt in einer Art Bewußtlosigkeit gehalten. Der weitverbreitete Analphabetismus und der Überlebenskampf von mehr als der Hälfte der Bevölkerung hilft der politisch dominierenden Schicht, ihre Herrschaft aufrechtzuhalten. Bei den Wahlen verkaufen nicht wenige Brasilianer ihre Stimme für ein Paar Schuhe, ein paar Kilo Reis oder ein T-Shirt. Dem entspricht auch die Wirkung des Fernsehens, das in meinem Land auf unheilvolle Weise an orale Traditionen der Volkskultur anknüpft und eine unglaubliche Fähigkeit zur Manipulation entwickelt hat. Solange es kein Erziehungsprogramm gibt, das in die Breite der Bevölkerung wirkt, so lange wird diese Schicht ihre Dominanz behalten. Allein diejenigen, die sich durch Kriminalität und Gewalt außerhalb der Gesellschaft stellen, entgehen in gewisser Weise dieser Herrschaft. Sie haben der Gesellschaft den Krieg erklärt, und dieser Bürgerkrieg macht die Städte Brasiliens zunehmend unbewohnbar.

Die Armen sind bei Ihnen verkrüppelt, gealtert, müde, die ganz Jungen von der Bildermaschine des Fernsehens hypnotisiert. Ist da noch Platz für die Hoffnung auf friedliche Veränderung?

Der Eindruck völliger Ausweglosigkeit, den mein Roman erweckt, bezieht sich auf die Gegenwart des Landes. Literatur kann nur aus der unmittelbaren individuellen Erfahrung schöpfen, und Gewalt und Gegengewalt sind gesellschaftliche Praxis in Brasilien. Es wurde jetzt ein Präsident gewählt, der im Wahlkampf versprochen hat, das Problem der Schulbildung und des Hungers anzugehen. Er besitzt alle Voraussetzungen, etwas zu verändern, verfügt augenscheinlich über die notwendige Einsicht und über starke Bündnispartner. Ich kann nur hoffen, daß den Ankündigungen politische Praxis folgt.

Ihr Ich-Erzähler ist im Roman erkennbar ein Kind der Oberschicht, trotzdem aber in vielfacher Beziehung ein Enterbter. Da ist beispielsweise der Landsitz der Familie, Schauplatz der Jugend des Erzählers, der von Kriminellen besetzt wurde ...

Der Landsitz stellt für den Erzähler eine nostalgische Erinnerung an die Zeit der Kindheit dar. Es war der Ort seiner leidenschaftlichen Liebe zur Schwester, bevor diese ihm durch ihre Heirat für immer geraubt wurde. Auf der Ebene der Empfindungen steht dieser Besitz also für einen doppelten Verlust. Daß der Erzähler, als er nach langer Zeit dorthin zurückkehrt, das Land plötzlich besetzt findet, dort auf Drogenhändler stößt, die eine Haschisch-Plantage eingerichtet haben, gehört zu den Realitäten Brasiliens. Zwar ist das Konzept des Romans keineswegs realistisch. Er wird aus der verzerrten Perspektive einer Person geschrieben, die nur schwer Wirklichkeit und Träume auseinanderhalten kann. Dennoch sind alle geschilderten Einzelheiten durchaus wahrscheinliche Bestandteile unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. So zeigt eine Szene des Buches Kinder, die auf dem Dach eines Busses „surfen“, und einige von ihnen stürzen ab und geraten unter die Räder. Als ich das geschrieben habe, gab es diesen „Surf der Armen“ nur auf Zugdächern, inzwischen hat die Wirklichkeit die Literatur eingeholt, und auf Stadtbussen balancierende Kinder sind leider inzwischen in Rio de Janeiro eine weitverbreitete Erscheinung.

Der Erzähler ist ein Herumirrender. Er fühlt sich keiner gesellschaftlichen Schicht zugehörig. Er spürt deutlich, daß er nichts besitzt. Er besitzt noch nicht einmal einen Namen, weil ihn im Roman niemand anspricht. Er befindet sich auf einer dauernden, im Kreis führenden Flucht, auf die er nichts mitnehmen kann, weil ihn alles behindert.

Offenbar geht es Ihnen um ein Generationenschicksal. Sind die politischen Zielvorstellungen der brasilianischen Achtundsechziger, beispielsweise die immer noch ausstehende Landreform, heute wirklich nur noch lächerlich, Nostalgie?

Brasilien ist immer noch ein Feudalstaat. Die grundlegenden Probleme des Landes stellen sich seit Jahrhunderten fast unverändert dar. Die Linke hat in der Vergangenheit mit großer Naivität Lösungen vorgeschlagen, die politisch nicht durchzusetzen waren. Wenn heute vom Problem der Latifundien die Rede ist, vermeidet man den Ausdruck „Landreform“. Die Träumer meiner Generation sind gründlich gescheitert. Aber das trifft ja auch auf Europa zu. Die revolutionären Träume der Linken scheiterten ebenso wie die individualistischen Träume der Hippies. In diesem Sinn steht der Ich- Erzähler in meinem Buch tatsächlich für eine Generation.

Trotzdem kümmern Sie sich um die Tagespolitik ...

Bei der Wahl vom 3. Oktober habe ich für den Kandidaten der Arbeiterpartei, Lula da Silva, gestimmt. Natürlich kenne ich die großen Defizite dieser politischen Kraft, wie etwa die mangelnde Demokratie innerhalb der Parteiorganisation, die zum Teil auch für das schlechte Abschneiden bei der Wahl verantwortlich ist. Dennoch glaube ich, daß Lula eine außerordentlich originelle Begabung darstellt, die in keines der gängigen politischen Raster paßt. Vielleicht liegt hier trotz der Niederlage ein Ausweg aus der Krise der Linken. Warum sollte Brasilien, das in der Musik, in der Literatur ganz eigene Wege gegangen ist, sich nicht auch politisch von den importierten Formeln lösen können? In den sechziger Jahren haben wir uns wie fast alle unsere Nachbarn von einer Militärdiktatur unterwerfen lassen, müssen wir jetzt unbedingt der Mode des Neoliberalismus hinterherlaufen? Die Erfahrung der gegenwärtigen Krise ist so schockierend und die Sehnsucht nach einer Veränderung so tief – ich glaube, das intellektuelle Potential dieses riesigen Landes kann gar nicht anders, als früher oder später eigenständige Vorstellungen zur Aufhebung der schreienden sozialen Ungerechtigkeit zu entwickeln.

In „Der Gejagte“ ist allerdings wenig davon zu spüren. Selbst die Träume erscheinen als Wiederholungen. Keine Spur mehr von der „jungen“ Nation Brasilien, dem „Land der Zukunft“ ...

Das Buch stellt in seiner Ausweglosigkeit sicher eine Art der Schocktherapie dar. Die gesellschaftliche Wirklichkeit stellt den Hintergrund für eine ästhetische, eine literarische Erfahrung: wie die endlose Drehung eines Mühl

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steins. In gewisser Weise stellt dieser Roman die dunkle Rückseite, das Gegenteil meiner Arbeit als Musiker dar. Musik kann Hoffnung nur sehr schwer abschütteln. Sie transportiert diese besondere „tropische“ Sinnlichkeit, die euphorisch ist und Enttäuschungen gleichmütig immer wieder einfach vergißt.

Da Silva, für den Sie sich eingesetzt haben, hat ja nun verloren ...

Mein Engagement entstand nicht etwa aus einer Parteibindung. Ich habe mich für Lula da Silva eingesetzt, weil ich glaube, daß er der bessere Präsident geworden wäre. Zudem war mir von Anfang an klar, daß bei einer Präsidentschaft der Arbeiterpartei natürlich auch die politischen Kräfte des Gegenkandidaten Fernando Henrique Cardoso zur Mitarbeit aufgefordert wären. Lula da Silva hätte nicht allein regieren können. Ich habe mir also eine Mitte-links- Koalition vorgestellt. Aber auch der jetzige Sieger Cardoso hat eine Biographie, die ich respektiere. Leider war er im Wahlkampf gezwungen, mit einigen sehr reaktionären Kräften des Landes Bündnisse einzugehen. Ich hoffe nun, daß er sich als gewählter Präsident von diesen Rücksichten frei machen kann. Schließlich hindert ihn nichts daran, Lula da Silva und einen Teil der Arbeiterpartei zur politischen Zusammenarbeit einzuladen.

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