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„Der Junge muß bleiben“

Ein 16jähriger soll aus Bayern nach China abgeschoben werden – seine Eltern sind verschwunden / Das Innenministerium will noch eine „adäquate Unterbringung“ in China prüfen  ■ Von Bernd Siegler

„Es wird gebeten, daß der Ausländer ab 19.10. 1994 reisefertig zur Verfügung steht. Er wird von Polizeibeamten direkt zum Flughafen verbracht. Das Fluggepäck darf 20 Kilogramm nicht übersteigen.“ Seit einem Jahr lebt der 16jährige Chinese Jun Jin im mittelfränkischen Gunzenhausen. Die Lehrer sind von dem eifrigen Schüler begeistert, der evangelische Landesbischof hat sich für ihn eingesetzt, die Vizepräsidentin des Bundestages, Renate Schmidt, mahnt den Ermessensspielraum der Institutionen an. Doch die Ausländerbehörde bleibt hart. Der 16jährige, dessen Eltern verschwunden sind, soll am 20. Oktober abgeschoben werden. Der Aeroflot-Flug SU258 über Moskau nach Peking ist bereits gebucht. Das bayerische Innenministerium will jetzt vor der Abschiebung noch klären, was Jin in China erwartet.

Vor rund einem Jahr kam Jun Jin nach Deutschland. Als er acht Jahre alt war, verschwand die Mutter. Mit seinem Vater reiste er vor zweieinhalb Jahren illegal in die Niederlande ein. Doch auch der Vater tauchte später unter, ein Freund brachte den Jungen über die deutsche Grenze. Seitdem lebt Jun Jin im Kinderheim Bezzelhaus in Gunzenhausen und besucht dort die Schule. Rektor Franz Müller lobt ihn in höchsten Tönen: ein Schüler, „wie man sich ihn nur wünschen“ könne. Dreiundzwanzig Lehrer, das gesamte Kollegium, unterzeichneten eine Erklärung gegen seine Abschiebung.

Auch eine Lehrstelle als Autoschlosser hat Jun Jin bereits in Aussicht. Doch soweit scheint es nicht zu kommen. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hat Jins Antrag auf Asyl als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Auch die letzten Eilanträge beim Verwaltungs- und beim Vormundschaftsgericht wurden abgelehnt, die Entscheidung im Hauptsacheverfahren steht jedoch noch aus. Eine Petition ist im Landtag anhängig. Über sie soll im November entschieden werden – zu spät.

„Ich kann nichts anderes tun, in deutschen Amtsstuben muß nach Recht und Gesetz entschieden werden“, pocht Gerd Rudolph von der Ausländerbehörde im Landratsamt Weißenburg-Gunzenhausen auf die Paragraphen. „Wenn wir den hier jetzt da lassen, bis er 18 ist, dann kriegen wir ihn überhaupt nicht mehr raus“, führt Rudolph ins Feld, der den Heimreiseschein der chinesischen Botschaft schon in Händen hält. „Es ist völliger Unfug, daß es hier keinen Ermessensspielraum gibt“, betont der Nürnberger Anwalt Hermann Gimpl, der die Heilpädagogin Elisabeth Niemeyer vertritt. Seit knapp einem Jahr ist sie Vormund des Jugendlichen. Gimpl will eine Duldung aus humanitären Gründen erreichen.

Elisabeth Niemeyer bezweifelt, daß Jun Jin in China Gutes erwartet. Sie befürchtet, daß dem Jugendlichen wegen seines hier gestellten Asylantrags Repressalien drohen. Noch bis Anfang 1993 hatte das Auswärtige Amt mit seinen Gutachten einen Abschiebestopp nach China untermauert. Dann, nach dem Aufblühen der wirtschaftlichen Beziehungen, änderte sich dies schlagartig. Obwohl amnesty international immer wieder schwerste Menschenrechtsverletzungen in China anprangert, sieht man in Bonn keine Abschiebehemmnisse mehr. Seitdem wird abgeschoben. Mit Jun Jin würde allerdings erstmals ein unbegleiteter Minderjähriger in die Volksrepublik zurückgeschickt werden.

Selbst Renate Schmidt konnte ihren Parteigenossen im zuständigen Ausländeramt nicht umstimmen. Rudolph, der für die SPD im Gunzenhausener Stadtrat sitzt, betont, er habe „schließlich das Recht zu vollziehen“. Er sei gegen eine Änderung des Asylgrundgesetzartikels gewesen, doch er handele in dieser Sache „nicht als politischer Mensch“. Die Unterstützung für Jun Jin und die Einbringung einer Petition in den Landtag wertet er als „Psychoterror“. Damit dürfte er wohl auch den offenen Brief des evangelischen Landesbischofs, Hermann von Loewenich, an Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) gemeint haben, in dem der Bischof für Jun Jin eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen erbittet. Dies würde dazu beitragen, „daß im Empfinden der Staatsbürger nicht zwischen staatlichem Recht und Humanität eine bedenkliche Kluft entsteht“.

Doch Beckstein betont bei jeder sich bietenden Gelegenheit, daß er für eine rigorose Abschiebung abgelehnter Asylsuchender eintritt. Immerhin sicherte das Innenministerium inzwischen zu, so Pressesprecherin Heidrun Piwernetz zur taz, daß vor einer Abschiebung sichergestellt sein müsse, daß „der Jugendliche in China adäquat untergebracht oder von Verwandten am Flughafen abgeholt wird“. Dies solle jetzt die deutsche Botschaft in Peking prüfen und könne wahrscheinlich nicht in wenigen Tagen geschehen. Dieses „Zugeständnis“ ist jedoch nur das mindeste. Es entspricht dem von der Bundesrepublik unterzeichneten Haager Minderjährigenschutzabkommen.

„Jun Jin ist ziemlich fertig und hat seinen Humor verloren“, beschreibt Elisabeth Niemeyer den Zustand des 16jährigen. „Es kann doch nicht sein, daß ein Minderjähriger ohne Angehörige einfach so nach China abgeschoben wird.“ Ihre Forderung, und damit ist sie sich mit vielen Gunzenhausener Bürgern, dem Lehrerkollegium und den Heimmitarbeitern einig, ist eindeutig: „Der Junge muß bleiben.“

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