19. Oktober 1989
: Ökonomische Variablen

■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie

Am vergangenen Abend hat Krenz im Fernsehen eine Rede gehalten, die genau meinen Erwartungen entsprochen hat: formelhafte Sprüche, Agitationshülsen, Sprachschutt.

Ich erinnere mich noch gut, als ich Krenz das erste Mal aus der Nähe gesehen habe. 1979, da war er noch 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ, traf ich ihn beim Zentralen Poetenseminar der FDJ in Schwerin. Daß er alsbald ins ZK wechseln würde, war damals schon bekannt, so daß Krenz in seinem Auftreten zwischen „kumpelhaftem FDJler“ und „führendem Genossen“ ständig hin und her wechselte, was an sich schon albern war. Dazu kam: Krenz ist ein Mensch, der über seine eigenen Witze am lautesten lacht – wahrscheinlich, weil er gewöhnt ist, daß alle anderen ohnehin brav mitlachen. Und: Krenz ist ein Mensch, der ständig schwitzt. Dafür kann er zwar nichts, aber es macht ihn nicht gerade sympathisch.

Immerhin änderten sich in seiner gestrigen Rede wenigstens die Töne gegenüber jenen, die immer noch zu Tausenden das Land verlassen. „Ihren Weggang empfinden wir als großen Aderlaß“, heißt es jetzt. Daß mit diesem Eingeständnis jedoch noch nicht unbedingt ein menschlicher Verlust gemeint ist, beweist ein Zeitungsartikel in der Jungen Welt vom heutigen Tag. Ein gewisser Professor Peter Thal, Wirtschaftswissenschaftler, rechnet darin vor, welcher volkswirtschaftlicher Verlust der DDR durch die Ausreisewelle entsteht. Pro zehntausend Ausreisende gingen der DDR jährlich 0,12 Prozent des Nationaleinkommens verloren, errechnet der Professor. Menschen als ökonomische Variablen zu betrachten – dies ist das wirkliche Gesicht der real existierenden Staatsführung. Wodurch unterscheidet sie sich dann noch von anderen? Wolfram Kempe

Unser Autor ist Schriftsteller und Publizist. Er lebt in Berlin.