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Bauernmärkte ohne Bauern

Acht Jahre nach dem Verbot der Bauernmärkte kann auf Kuba wieder frei gehandelt werden. Die Bauern sehen's mit Mißtrauen.  ■ Aus Kuba Bert Hoffmann

Von der Küstenstraße ist es eine gute Stunde Aufstieg, bis man den kleinen Bauernhof in der Sierra Maestra erreicht. Die Bäume dort sind voller reifer Früchte, Guayavas, Mangos, Honigäpfel. In den Städten Kubas sind das hochgeschätzte Raritäten, die für die Normalbevölkerung seit Jahren nicht mehr zu bekommen ist. Doch hier auf dem Hof bleiben die Früchte an den Bäumen, ohne gepflückt zu werden.

Dabei ist der alte Jacinto Baquero (Name geändert – d.R.), dem der Hof und die Bäume gehören, ein Bauer aus Tradition und Leidenschaft. Ein echter „Guajiro, wie man hier sagt. Schon sein Vater war Bauer, bevor er einst aus Galizien auswanderte, um in Kuba ein besseres Leben zu finden. Die Mangos und Guayavas aber pflückt er nur für die Familie und für Freunde. Für den Staat erntet er so viel, wie der Plan es ihm vorschreibt, aber kein Gramm mehr. Sechs Pesos zahlt ihm die staatliche Ankaufstelle für das Quintal – knapp 50 Kilogramm – fertig verarbeitete Guayavamarmelade. Sechs kubanische Pesos. Das sind, in Dollars getauscht, gerade mal sechs bis sieben Cents. Oder: ein Zehntel des billigsten Stücks Seife im Devisenshop in Santiago. In Kuba haben die Preise jegliche Relation verloren. Sechs Pesos sind keine Bezahlung, sondern eine Zumutung. Für sechs Pesos, für ein Zehntel Stück Seife, pflückt Jacinto Baquero niemandem freiwillig 100 Pfund Guayavas, kocht sie stundenlang zu Marmelade ein, füllt sie ab, lädt sie auf seine Esel und treibt sie in das Dorf an der Küste. Er ist ein Guajiro, und er hat seinen Stolz.

Die riesigen Zuckerrohrplantagen der Kolonialherren sind seit Jahrhunderten das schmerzende Rückgrat der kubanischen Wirtschaft und Geschichte. Die als arme Einwanderer auf die Insel gekommenen Bauern, die Guajiros, sind Kubas in zahllosen Liedern besungene Seele. Es ist kein Zufall, daß Fidel Castros Revolutionskämpfer nach ihrer Landung als erstes bei ihnen Unterstützung suchten – und fanden. Damals, als in den Bergen der Sierra Maestra der Guerilla-Krieg gegen die Batista-Diktatur begann, gab der alte Jacinto den Rebellen Unterschlupf und Essen. Revolutions-Comandante Juan Almeida, der damals die Gegend hier kontrollierte, ist heute einer der mächtigen alten Männer im Politbüro der kubanischen KP. Jacinto Baquero hat es derweil geschafft, seinen Hof zu behalten, sich dreieinhalb Jahrzehnte lang gegen Verstaatlichung und Kollektivierung zu behaupten. Der Staat ist für ihn ein Zwischenhändler, der ihm absurde Preise diktiert, weil er das Monopol hat und die Macht. Zum Staat hat er keine wirtschaftliche Beziehung, sondern eine der Vorschriften, der zu erfüllenden Planvorgaben, des Zwangs. Wirtschaft findet nur als Schwarzmarkt statt. Die Familie von Jacinto braucht Seife, natürlich, und über die staatliche Rationierungskarte ist seit Monaten keine mehr verteilt worden. Aber er wird dafür dem Staat nicht 500 Kilo Marmelade produzieren, sondern sie unter der Hand bei jemandem aus der Stadt für zwei Liter Milch eintauschen.

Dies soll sich nun ändern. Seit dem 1. Oktober sind in Kuba wieder Märkte für landwirtschaftliche Erzeugnisse zugelassen. Eine kleine Sensation. Denn bis dato beschränkten sich die wirtschaftlichen Reformschritte in Kuba auf eine Öffnung nach außen, für ausländische Investoren und für die neu entstehenden Dollarwelten in Kuba, an deren Schalthebeln die Kader der Partei plaziert sind. Und Bauernmärkte nach Vorbild der sowjetischen Kolchosmärkte waren in Kuba ja schon einmal eingeführt worden, in den 80er Jahren. Und in der großen Kampagne zur „Berichtigung von Irrtümern“ 1986 wieder abgeschafft worden. Fidel Castro höchstpersönlich hatte sein ganzes Gewicht in die Waagschale geworfen, um die Bauernmärkte als gefährliche Keimzelle des Kapitalismus zu brandmarken, der die Revolution mit aller Entschlossenheit ein Ende setzen müsse. Die Folge war nicht nur ein Anwachsen des Schwarzhandels, sondern vor allem auch ein Absturz bei den Ernteerträgen: Seit der Auflösung der Bauernmärkte – und nicht erst seit dem Zusammmenbruch der sozialistischen Verbündeten in Übersee – ist die Nahrungsmittelproduktion in Kuba Jahr für Jahr gesunken. Man importierte statt dessen um so fleißiger aus Osteuropa. Wenn der alte Jacinto Baquero über die importierten Gemüsekonserven aus Bulgarien redet, ist die Verbitterung in seiner Stimme nicht zu überhören.

Immer wieder war seitdem innerhalb der Partei die Wiederzulassung der Märkte gefordert worden. Doch immer hatte die Führung derartigen Versuchen eine radikale Absage erteilt. Die überwältigende Mehrheit des Volkes sei dagegen, argumentierte Fidel Castro, und diesen Volkswillen müsse die Regierung vertreten. Ein unschlagbares Argument, solange der Comandante en Jefe der kubanischen Revolution das Entscheidungsmonopol darüber hat, was der wahre Wille des Volkes ist. Wenn jetzt das genaue Gegenteil beschlossen wird, dann ist freilich auch dies der Wille des Volkes. Allerdings überließ es Fidel Castro seinem Bruder Raúl, Armeechef und Nummer zwei in der politischen Hierarchie des Landes, den Kubanern und Kubanerinnen die neue Kehrtwende zu verkünden: „Damit es Essen für das Volk gibt, ist kein Risiko zu groß!“ lautet die neue Devise. Das Risiko aus der Sicht der Regierung ist vor allem, daß in der kubanischen Gesellschaft mit den Märkten ein Sektor entstehen könnte, der über wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Staat verfügt – und damit den Klientelismus, eine der entscheidenden Säulen des Machterhalts, unterwandert. Aber die Unruhen in Havanna am 5. August und die folgende Massenflucht haben auch das Risiko des „Weiter so!“ unübersehbar gemacht. Die Ernährungslage ist für die Bevölkerung in den Städten tatsächlich dramatisch. Es ist bezeichnend, daß Armeechef Raúl Castro das Comeback der Bauernmärkte auch militärisch begründete: Die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion habe jetzt oberste Priorität der Landesverteidigung. „Wir haben so lange mit vielen Argumenten die Wiedereröffnung der Märkte gefordert, und so lange ist das abgelehnt worden“, sagt ein Wissenschaftler in Santiago de Cuba, der aktiv in parteinahen Gremien engagiert ist: „Jetzt kommen die Märkte – aber wir sollten uns nichts darüber vormachen, warum. Das verdanken wir den Bootsflüchtlingen und den Leuten, die in Havanna auf die Straße gegangen sind.“

Um die 180-Grad-Wende der Politik ein wenig abzufedern, feiern die einst im Namen des Volkes abgeschafften „Bauernmärkte“ ihr Comeback unter anderem Namen, als „Agrar- und Viehmärkte“. Damit allerdings liegt die offizielle Sprachregelung bislang näher an der Wirklichkeit als der Volksmund, der auf dem alten Begriff beharrt. Denn noch sind die „Bauernmärkte“ praktisch Märkte ohne Bauern. Auf dem zentralen Markt von Santiago de Cuba etwa, der zweitgrößten Stadt der Insel, hatte auch mehrere Tage nach der Eröffnung noch kein einziger unabhängiger Campesino einen regulären Stand gemietet. Und in dem großen „Cuatro-Caminos“-Markt in der Altstadt von Havanna beschränkten sich die privaten Produzenten weitgehend auf Städter, die nebenher in ihrem Garten etwas Landbau betreiben und nun einen Korb voll Schnittlauch verkaufen oder die Früchte ihrer zwei Avocado-Bäume zu Geld machen.

Der eigentliche Verkauf von landwirtschaftlichen Grundgütern wie Maniok oder Boniato-Knollen, Fleisch oder Reis hingegen erfolgt bislang fast ausschließlich durch staatliche Farmen und Produktionsgenossenschaften – und in auffallend starkem Maße auch durch das Militär. Der Armee unterstehen in Kuba nicht nur die Truppen, sondern auch eine komplette parallele Wirtschaftsstruktur, die von Rum-Destillen bis zu Kleiderfabriken, von Tourismusunternehmen bis hin zu landwirtschaftlichen Großbetrieben reicht.

„Ich möchte mal wissen, wo die Produkte jetzt auf einmal alle herkommen“, beschwert sich in Havannas „Cuatro-Caminos“-Markt eine Frau, die in einer langen Schlange nach Kochbananen ansteht. „In meiner Ausgabestelle hat es seit zwei Wochen weder Bananen noch Maniok gegeben. Und hier verkauft der Staat plötzlich das alles selbst, nur zu viel höheren Preisen – der gleiche Staat, der uns sonst sagt: ,Gibt's nicht!‘“ Die offizielle Regelung besagt, daß nur diejenigen Betriebe auf den Märkten verkaufen dürfen, die zuvor ihr Plansoll dem Staat gegenüber erfüllt haben. Der Frau auf dem Markt hilft diese Erklärung nicht viel: „Wenn die alle hier ihre Pläne so toll erfüllen, warum gibt's dann in den Läden für uns so wenig zu essen?“ Genau das ist einer der heikelsten Punkte für die Regierung: Wo der Mangel bislang als äußerer Zwang erschien, unveränderlich wie ein Naturgesetz („wir sind nun mal ein armes Land“), widerlegt jetzt die Wirklichkeit tagtäglich jene einfachen Erklärungen: Dort hat der Staat Bohnen und Fleisch – und hier nicht.

Als er vor acht Jahren die Märkte schließen ließ, war Fidel Castro mit enormem rhetorischem Einsatz gegen die „Wucherpreise“ der Händler zu Felde gezogen, vor denen der Staat das Volk schützen müsse. Davon ist keine Rede mehr. Auf den neuen Agrarmärkten, so ließ der Revolutionsführer das Volk über seinen Bruder Raúl wissen, werde sich der Preis der Waren nach dem „Spiel von Angebot und Nachfrage“ richten. Und der zweite Mann des kubanischen Sozialismus begründete diesen Schritt mit der expliziten Anerkennung der real existierenden (Schwarz)marktwirtschaft Kubas. Es könne sein, räumte Raúl Castro ein, daß die Preise auf dem Markt manchen hoch erscheinen: „Aber sie werden auf jeden Fall niedriger liegen als auf dem Schwarzmarkt.“

Denn seitdem in Kuba der freie Ware-gegen-Geld-Verkauf praktisch abgeschafft ist und allein die allen Kubanern zustehende Rationierungskarte, die „Libreta“, über die Zuteilungen entscheidet, ist der Schwarzmarkt schlichtweg explodiert. Mit den neuen Märkten wird das Problem angegangen – der Schwarzhandel bekommt staatlich organisierte Konkurrenz.

Der vielleicht wichtigste kurzfristige Effekt der neuen Märkte aber ist ein anderer: Erstmals wird der kubanischen Währung, dem Peso, wieder Wert gegeben. Denn in den vergangenen Jahren war der Wertverlust des Peso ein Sturz ins Bodenlose gewesen. Über die Waren der Rationierungskarte hinaus gab es für Pesos kaum noch etwas zu kaufen, sondern nur noch für Dollar. Und statt der offiziellen 1:1-Parität mußten bis zu 130 Pesos für einen Dollar hingeblättert werden – womit der durchschnittliche kubanische Monatslohn nicht einmal mehr dem Wert von zwei Dollar entsprach. So stehen auf dem Markt die Leute fast ungläubig vor dem Metzgerstand; daß echtes Schweinefleisch tatsächlich für kubanische Pesos und nicht nur für Dollars zu kaufen ist, ist für die Kubaner eine neue Erfahrung. Das psychologische Signal zeigt ökonomische Wirkung. In den letzten Wochen ist der Wert des Dollar gegenüber dem Peso gefallen, und nicht umgekehrt.

Noch ist das allerdings auf dünnem Eis gebaut. Die Warenfülle, die die staatlichen Betriebe und das Militär zur Eröffnung in die Märkte zauberten, kann sich schnell als Strohfeuer entpuppen. Bereits um 11 Uhr morgens sind inzwischen die Markthallen fast leergekauft. Und nur drei Tage nach der großen Eröffnung dachte das KP-Zentralorgan Granma auf Seite 1 bereits laut darüber nach, daß man die Märkte nicht wie vorgesehen sechs Tage die Woche zulassen sollte, wenn es dafür kein ausreichendes Warenangebot gibt.

Mittelfristig wird so alles davon abhängen, ob tatsächlich eine umfassende Reaktivierung der Nahrungsmittelproduktion erreicht wird, ob die Zulassung der Märkte ein isolierter Schritt bleibt oder ob eine weitergehende Veränderungsdynamik folgt. Der alte Jacinto Baquero jedenfalls betrachtet das alles mit Skepsis – und wartet ab. Er hat schon viele große Ankündigungen erlebt. Und er erinnert sich noch gut an das letzte Mal, als die Bauernmärkte eingeführt wurden und sie, die Bauern, anfingen zu säen und zu ernten. Lange hat das nicht gedauert. Dann blies auf der Ebene der hohen Politik auf einmal ein anderer Wind, die Märkte waren schneller dichtgemacht als sie gekommen waren und die Bauern schreckliche Bösewichte, die sich auf Kosten des Volkes bereichern würden.

Nein, Vertrauen in die Maßnahmen der Regierung hat er auch jetzt keines. „Um auf dem Markt zu verkaufen, muß man ja alles genau registrieren lassen, wer man ist und was und wieviel man anbietet“, sagt er. „Wenn ich jetzt vom Staat 20 Quintales als Plansoll habe, und dann noch 20 Quintales mehr auf dem Markt verkaufe – wer weiß, ob sie mir dann nicht fürs nächste Jahr den Plan auf 40 Quintales erhöhen.“ Es gibt für ihn auch keine Kontinuität eines Reformprogramms, auf die er sich verlassen könnte. Gerade vor ein paar Monaten hat das kubanische Parlament wieder neue Maßnahmen zur Konfiszierung von Eigentum beschlossen, das „illegal erworben“ wurde. Und Jacinto Baquero weiß nur zu gut, wie dehnbar ein solcher Begriff im sozialistischen Kuba ist. Fürs erste also bleiben die Guayavas auch weiterhin am Baum.

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