Wem die Stunde schlägt

■ Der Schweizer Tony Rominger verbesserte den Stundenweltrekord von Miguel Indurin um 792 Meter

Berlin (taz) – Nach den Techno- Eskapaden der beiden innovationsfreudigen Briten Chris Boardman und Graeme Obree mit ihren Hyper-Rädern haben nun die Meister der Zunft die Sache wieder selbst in die Hand genommen. Sie führen den Stundenweltrekord, dem bereits so historische Figuren wie Fausto Coppi (1942), Jacques Anquetil (1956), Eddy Merckx (1972) und Francesco Moser (1984) erfolgreich zu Leibe gerückt waren, sozusagen auf seine Ursprünge zurück: ein ausgewiesener Gigant des Fahrradsattels schwingt sich auf ein relativ ordinäres Rad, fährt eine Stunde im Kreis herum und sieht zu, daß am Ende eine neue Bestmarke herauskommt.

Am 2. September war es der Spanier Miguel Induráin, der den einzigen nennenswerten Weltrekord, den es im Radsport gibt, auf 53,040 Kilometer schraubte, am Samstag konterte in imposanter Weise Tony Rominger, der sich als erster Schweizer seit Oscar Egg vor 80 Jahren in die Liste der Stundenkönige eintrug. Er schaffte in 60 Minuten 53,832 Kilometer, wären Induráin und er gegeneinander gefahren, hätte Rominger den vierfachen Tour-Sieger bei seinen 216 Runden dreimal überholt. Späte Genugtuung für die Abreibung, die ihm Induráin im Sommer bei der Tour de France verabreicht hattem, wo Rominger frustriert aufgegeben hatte.

Dabei war Romingers Rekordversuch auf der Holzbahn in Bordeaux-Lac ursprünglich gar nicht so ernst gemeint gewesen. Der 33jährige wollte eigentlich nur sehen, wie es läuft, und beweisen, daß er den Rekord in den Waden hat, um Sponsoren für den wahren Versuch zu mobilisieren, der im November in der Höhenlage von Mexiko-Stadt oder Quito über die Planken gehen soll. Nicht umsonst nennen sie Tony Rominger den „Buchhalter“. So genau, wie er den Ablauf seiner Karriere und die Gestaltung seiner Rennen kalkuliert, so genau kalkuliert er auch die Bewegungen auf seinem Konto. Eine halbe Million Franken Prämie wollte er schon sehen für seine Mühsal, doch bisher hielten sich mögliche Investoren zurück. „Wäre Rominger ein Spanier oder Italiener, sähe ich weit weniger Schwierigkeiten“, sagte Manager Marc Biver, „aber die Schweizer Industrie pennt.“

Induráin hatte sich, sorgsam kontrolliert von seinen Ärzten, mehrere Wochen lang akribisch auf die Hatz vorbereitet, sich langsam mit der ungewohnten Holzbahn vertraut gemacht und langsam an die Stunde herangetastet. Dem Schweizer, der ebenfalls nie zuvor auf einer Bahn gefahren war, genügte eine Woche zur Präparation. Bei seinem Rekord benutzte er ein vom italienischen Rahmenkonstrukteur Ernesto Colnago entwickeltes Rad – nicht gerade eine Tourenmaschine für Sonntagsausflügler, aber immerhin ein Gefährt, das sich auch auf der Straße verwenden läßt – und dieselbe Übersetzung wie Induráin. Anders als dieser verzichtete er auf die Anfeuerung durch Zuschauer, dafür war sein Hinterrad etwas größer, so daß er bei jeder Pedalumdrehung 8,85 Meter, neun Zentimeter mehr als Induráin, zurücklegte. Im Gegensatz zum Spanier, der sich exakt an einen Zeitplan hielt, kündigte Rominger vorher an, daß er das Rennen gegen die Uhr wie ein Straßenzeitfahren angehen werde: „Ich verausgabe mich von Anfang an.“

Ob die eindrucksvolle Demonstration von Bordeaux nun auch die schweizerischen Sponsoren geweckt hat, muß sich zeigen. Rominger ist jedenfalls nach wie vor entschlossen, den Trip nach Amerika zu wagen, wenn die Kasse stimmt. Vielleicht kommt er ja doch noch zu seiner halben Million, auch wenn er selbst die Trauben jetzt um einiges höher gehängt hat. Wenn nicht, bleibt ihm immer noch die Genugtuung, in der Saison 1994 gegenüber Miguel Induráin das letzte Wort gesprochen zu haben. Die Stunde des Mannes aus Navarra schlägt – wenn alles, inklusive Tour-Sieg Nummer fünf, nach Plan läuft – erst wieder im nächsten Herbst. Dann will sich auch Induráin die Höhenlage von Quito oder Mexiko-Stadt zunutze machen und endlich mal eine Marke vorlegen, die so schnell auch kein Rominger mehr erreicht. Matti