: Huchtinger Jugendgangs im Scheinwerfer
■ Stachelte Fernsehreporter eine Jugendgang an? / ZDF: Sozialarbeiterin hat „keine Ahnung“
Was passierte am Abend des 14.10. 1994 in Huchting? Wer hat zu verantworten, daß an dem Freiteg abend zwei Gullydeckel durch die Scheibe eines Kiosks an der Amsterdamer Straße flogen? Hat ein Kamerateam des ZDF, das an eben diesem Abend bei einer türkischen Jugendgang drehte, die Krawalle provoziert, oder gar dafür bezahlt, um genug Action filmen zu können?
Dies legt ein Bericht des Weser Report nahe. Präsentiert wird ein namenloser Anwohner, der aussagt, das Team habe die Jugendlichen „regelrecht aufgestachelt“. Präsentiert wird ein namenloser Jugendlicher, der aussagt, ohne Geld hätte es keine Randale gegeben. Präsentiert wird außerdem ein Auszug aus den Polizeiakten: Die Reporter hätten den Jugendlichen 20 Mark bezahlt. „Absoluter Schwachsinn“, kommentiert einer der ZDF-Reporter. Die Reporter des ZDF wollen in Huchting eine kriminelle Subkultur unter den Jugendlichen ausgemacht haben, von der die offiziellen Stellen keine Ahnung zu haben scheinen. „Seit dem Sommer ist es ruhig in Huchting“, sagt eine Sozialarbeiterin, die mit der türkischen Jugendgang arbeitet. Und das sagt das Ortsamt und das sagt die Polizei. „Die Frau hat keine Ahnung“, kontert der Reporter des ZDF aus Mainz.
Seit Monaten rechercheiert ein Team des ZDF-Jugendmagazins „Doppelpunkt“ in Bremen. Der Anlaß: Im Dezember letzten Jahres haben ein 19 und ein 20jähriger einen Autohändler überfallen und kaltblütig ermordet. Diesem Vorfall wollten die Reporter auf der Spur bleiben und sie stießen bei ihren Recherchen auf mehrere Jugendgangs. Fazit des ZDF im Expose zur Reportage: „Schutzgelderpressung, Diebstähle aller Art, Schlägereien, Revierkämpfe gehören inzwischen zum Alltag dieser 14- bis 20jährigen.“ Das, so der ZDF-Reporter Marc Wiese, sei der Hintergrund für die Dreharbeiten am vorletzten Freitag in Huchting. Doch bei dem Termin selbst sei es keineswegs um Gewalttaten gegangen, das Team habe lediglich Jugendliche beim Rap-Singen aufgenommen. „Der Kiosk war ewig weit weg. Als es da losging, haben wir sofort abgebrochen.“
Das hat Sabine Diers ganz anders erlebt. Sie ist die Sozialarbeiterin, die sich seit dem Sommer um eine Gruppe von etwa 40 türkischen Jugendlichen kümmert. Die hatte über lange Zeit für mächtig Ärger im Stadtteil gesorgt. Der Huchtinger Runde Tisch von Ortsamt, Polizei, Sozialsenatorin und AnwohnerInnen befaßte sich damit, eine Streetworkerin engagierte sich. „Seit eine großen Einwohnerversammlung, an der die Jugendlichen teilgenommen haben, ist es ruhiger geworden“, sagt sie.
Da sei sie ziemlich hellhörig geworden, als sie von den ZDF-Recherchen gehört habe. Merkwürdig sei es gewesen, daß die Reporter nicht auf sie zugegangen seien, noch viel merkwürdiger, wie der Verantwortliche der Recherchen, der ZDF-Mann Michael Möller, seine Arbeit verstanden habe. „Der war unheimlich überheblich. Der hat sich kompetenter gefühlt als die Sozialarbeiterin vor Ort. Der hat die Situation in Huchting unheimlich hochstilisiert. Klar ist das hier kein Zuckerschlecken, aber das ist doch nicht Los Angeles. Mein Problem damit war, ob die Jugendlichen durch das Medium nicht bestätigt werden.“
Da habe es ganz gut gepaßt, daß das Drehteam ohne Ankündigung in Huchting aufgetaucht sei. Die Reporter hätten die Jugendlichen zusammengetrommelt, „und die waren natürlich unheimlich geil darauf, ins Fernsehen zu kommen.“ Um elf sei sie gegangen, kurz darauf müssen die Scheiben beim Kiosk geklirrt haben. Zuerst habe es Gerüchte gegeben, das ZDF habe Geld bezahlt, aber das hätten die Jugendlichen ein paar Tage später zurückgewiesen. Trotzdem erhebt die Sozialarbeiterin schwere Vorwürfe gegen den Sender: „Auch wenn sie nicht bezahlt haben, sie haben eine Atmosphäre geschaffen, in der die Jugendlichen aufgeputscht waren. Für meine Arbeit ist das ein enormer Rückschlag.“
Die Sozialarbeiterin kenne nur den kleinern Teil der Jugendlichen, sagt dagegen Marc Wiese vom Reporterteam. „Ansonsten hat sie keine Ahnung von den Strukturen in der Gruppe. Wenn sie sagt, seit dem Sommer sei es ruhig gewesen – das ist absoluter Schwachsinn.“ Er habe bei seinen Recherchen mehrere Straftaten aus der Gruppe heraus mitbekommen, „die waren fünfmal krimineller als das, worüber der Weser Report geschrieben hat.“ Reihenweise seien Reifen von Neuwagen in einem Autohaus zerstochen worden, ein Autofahrer sei krankenhausreif geschlagen und sein Auto zerstört worden, weil er eine flapsige Bemerkung einer Frau gegenüber gemacht habe, „und so weiter.“
Am Freitag sei dagegen alles harmlos gewesen: „Nur Rap, mehr nicht. Als die Krawalle losgingen, habe das Team sofort eingepackt. Die Zeitung schreibt, wir hätten das gefilmt, davon ist kein Wort wahr“, sagt Wiese.
Der Artikel im Weser Report wird nun ein juristisches Nachspiel haben. Neben einer Gegendarstellung prüft der Justiziar des ZDF nun den Schritt vor den Presserat, sagte Heiner Gatzemeyer von der Jugendredaktion. Der Weser Report habe geschrieben, das Team habe die Dreharbeiten vorzeitig abgebrochen. Nicht einmal das habe gestimmt. Jochen Grabler
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