: Kuscheltier statt Kohle
Hallenrad-Weltmeisterschaft in Saarbrücken / Schwäbische Dominanz im Sattel ■ Aus dem Lenkersattelstand Ole Richards
Als Tony Rominger am Samstag in Bordeaux einen neuen Stundenweltrekord fuhr, sortierte Iris Kurz in Saarbrücken gerade ihre Kuscheltiere. „Die Maus und der Käfer waren schon beim ersten Titel dabei“, erzählt die dreimalige Weltmeisterin im Kunstfahren, „die anderen Tiere habe ich erst heute von den Fans geschenkt bekommen.“ Obwohl der Schweizer Radmillionär Rominger kein einziges Plüschtier erhielt, schenkte ihm die Fachpresse ihre ganze Aufmerksamkeit. Iris Kurz schenkte sie nichts. Das findet Bundestrainer Heinz Pfeiffer ungerecht, „weil unsere Athleten genauso hart und systematisch trainieren wie die Radprofis“.
Tony Rominger besiegte im 60minütigen Fernduell den König der Radfahrer, Miguel Induráin – alle staunten. Aber der wahre Machtwechsel im Radsport fand nahezu unbemerkt in der Saarbrücker Saarlandhalle statt. „Ich weiß immer noch nicht, ob es Wahrheit oder Traum ist“, rätselte die 22jährige Andrea Barth nach dem Einerkunstfahren der Frauen. Bei den letzten drei Weltmeisterschaften unterlag sie dreimal knapp Iris Kurz aus Bonlanden bei Stuttgart. Aber der Königin der Radpirouette wurde der berüchtigte Frontlenkerstand mit anderthalb Drehungen zum Verhängnis. Sturz, Schmerz, Niederlage. „Verdienen kann ich mit diesem Weltmeistertitel nichts“, weiß Andrea Barth, „aber für die Seele ist so ein Sieg ganz gut.“
Die Hallenradsportler sind die erfolgreichste Sparte im Bund Deutscher Radsportler. Aber als nichtolympische Sportart erhalten Kunstfahrer und Radballer nur eine minimale Sportförderung, die sie mit einigen Auftritten bei Sportpressebällen und Vereinsfesten aufbessern können. Die Meister von Sattellenkerstand und Steuerrohrsteiger nimmt trotz oder auch wegen ihrer Erfolge niemand so richtig ernst. Bei der WM in Saarbrücken wirbelten die Kunstfahrer in vier Disziplinen zu vier Doppelsiegen. „Und wenn fünf oder sechs Sportler startberechtigt wären, gäbe es eben fünf- oder sechsfache Siege der Deutschen“, ahnt die australische Meisterin, Jane Novak.
Erfolge ausländischer Starter täuschen zudem ein internationales Flair vor, das es nicht gibt. Die portugiesischen Schwestern Cavalko wurden zweimal Weltmeisterinnen im Zweierkunstfahren, leben aber in Lieme/Westfalen. Der Bronzemedaillengewinner José Arellano aus Spanien lernt gerade Spanisch. Er ist im schwäbischen Oehringen geboren. Die Zahl der teilnehmenden Länder könnte also von 19 ins Unermeßliche gesteigert werden, wenn sich die deutschen Vereine verstärkt um ihre ausländischen Mitmenschen kümmern, ihre Einbürgerung verhindern und sie für ihre Heimatländer zu Weltmeisterschaften schicken.
Kein Geld, kaum Konkurrenz – warum muß es diesen Sport also überhaupt geben? Für 10.000 deutsche Hallenradsportler existiert diese Frage nicht. Sie schätzen die Ästhetik, Athletik und Anspannung zwischen Sattelstützgrätsche und Damensitzsteiger. Fahrradfahren wie Rominger und Induráin kann jeder, aber welcher hochbezahlte Radprofi beherrscht schon den von Weltmeister Dieter Maute erfundenen Sprung vom Sattel auf den Lenker? Die Saarlandhalle von Saarbrücken erlebte ein ausverkauftes Volksfest, an dessen Rand Wettbewerbe stattfinden. „Kampf und Konkurrenz stören unseren Sport nicht“, betont Bundestrainer Pfeiffer, der nach 31 Jahren und 198 internationalen Medaillen sein Amt niederlegt. Die reine Lehre vom fairen Wettstreit scheint erhalten, auch alle Möglichkeiten der „medizinischen Trainingsbegleitung“ wurden bisher verschenkt. In Saarbrücken wurden nicht einmal Dopingproben genommen.
Auch aus diesem Grunde wären Rominger, Induráin, Bugno und Co. ungeeignet für die ungetrübte Welt des Hallenradsports. So betrachtet, verblaßt eine Bergankunft in Alpe d'Huez doch im Glanz eines freihändig gedrehten Kehrsteuerrohrsteigers. Die sportliche Bedeutung von Romingers Weltrekord blieb den Hallenradsportlern denn auch ein Rätsel. „Welchen Wert soll ein hochgezüchtetes Rennrad haben“, fragt sich Weltmeisterin Andrea Barth besorgt, „mit dem man nicht einmal freihändig fahren kann?“
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