: Flaschenpost aus dem Warschauer Ghetto
■ Wolf Biermann stellt Katzenelson und sein Holocaust-Epos im Schauspielhaus vor
Vor 50 Jahren schrieb der polnisch-jüdische Dichter Jizchak Katzenelson ein Versepos in Jiddisch über die Ermordung, aber auch den Widerstand der Juden im Warschauer Ghetto: „Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk“. Er schrieb dran von Oktober 43 bis Januar 44 in einem Sonderlager der französchischen Stadt Vittel. Drei Monate später starb er – bei seiner Ankunft in der Todesfabrik Auschwitz. Wie das handgeschriebene Manuskript, in drei Flaschen versteckt, den Krieg überlebt hat, das ist ein Krimi für sich.
Heute Abend kommt Wolf Biermann nach Bremen, um mit Gitarre und kratziger Stimme den Geist von Katzenelson und vom Widerstand des jüdischen Volkes aus der verkorkten Flasche zu lassen. Die Flaschenpost, die Biermann öffnet lautet: Es gab tatsächlich einen jüdischen Widerstand und die ausgemerzten ost-europäischen Juden hatten ihren Dante - nur wir haben ihn vergessen.
In den letzten zwei Jahren hat Wolf Biermann Katzenelsons Gedicht ins Deutsche übersetzt. Nach seiner Premiere in Hamburg trägt er es heute Abend im Bremer Schauspielhaus vor. Wer ein typisches Biermann Konzert erwartet, wird sich umstellen müßen. Die fünfzehn Gesängen des Epos „Grosser Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk“ werden nicht gesungen, aber Biermann unterbricht die einzelnen Teilen mit Liedern und Gitarrenstücken, um, wie er erklärt, sowohl dem Publikum als auch sich selbst Atempausen zu gönnen. Das Werk, sowohl Todesschrei eines Verzweifelten und Requiem für ein Volk, bedarf dringend solcher Unterbrechungen.
Warum Katzenelson? Warum Biermann? Es geht hier, falls man es bezweifelt hat, um eine neue Einweihung in die biermannsche Ahnengalerie der väterlichen Vorbilder. In der Einleitung zum jiddisch/deutschen Text, gerade erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, erklärt Biermann: „...beim Schreiben an all diesen schwarzen Strophen kam es mir allen Ernstes so vor, als hätte ich nur 30 Jahre meine Kräfte geübt, um nun endlich dieses Werk lebendig ans deutsche Land zu ziehen.“ Typisches Biermannsches Pathos. Doch man möchte ihm glauben, denn die zweijährige Fron als literarischer „Transportarbeiter“ scheint ihn zum vorläufigen Endpunkt seines Lebensprojekts gebracht zu haben, nämlich die Bewältigung des Todes seines Vaters in Auschwitz. „Bei all dem trieb mich auch der lebenslängliche Affekt, immer wieder den Tod meines Vaters zu besiegen“.
Erst seine Reisen nach Israel in den letzten Jahren haben ihm die Augen geöffnet. In einem Interview bekannte er: „Ich wußte zwar immer, daß mein Vater Jude war. Und das meine ganze jüdische Familie ermordet wurde. Und das hat in meinem Herzen eine riesige Bedeutung, wie überhaupt die Toten in meiner Familie mir die Kraft gegeben haben, mich in den Streit mit den Herrschenden in der DDR einzulassen, denn sonst hätte ich zu viel Angst gehabt. Aber das Jüdische daran interessierte mich nie so. Mein Vater war Kommunist, Arbeiter, Schlosser. - Jude? Ich glaube, dieses peinliche Desinteresse war der letzte Rest von Stalinismüs in meinem Herzen.“
Wie gelungen diese dichterische Begegnung zwischen den wiederentdeckten Katzenelson und dem wiederbelebten Biermann ist, läßt sich heute Abend im Bremer Schauspielhaus erleben.
Darren Nolan
Heute 19.30 Uhr , im Theater am Goetheplatz
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