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Auftritte mit Regenschirm

■ Im Januar wird das Moderne Theater geschlossen, „Mademoiselle Marie“ ist die letzte Eigenproduktion

Mädchenträume: berühmt sein und geliebt werden. Die junge russische Aristokratin Marie Bashkirtseff arbeitete in einem fieberhaften Wettlauf mit dem Tod. Hin und her gerissen zwischen dem Glauben an ihr Talent und heftigen Selbstzweifeln, träumte sie von unsterblichem Nachruhm als Malerin. Bekannter wurde sie durch ihr posthum veröffentlichtes Tagebuch, daß ihren Ehrgeiz, ihre Verletzlichkeit und ihre tiefe Einsamkeit widerspiegelt. Nur 24 Jahre alt, starb die Malerin vor 100 Jahren in Paris an Schwindsucht.

Isabelle Habiagues Fassung des Tagebuchs als poetischer Monolog wird im Modernen Theater seit einiger Zeit gezeigt. Die winzige Bühne bleibt bis auf ein paar umgedrehte Bilder leer. Ein Mädchen im weißen Spitzenkleid kniet und spricht sein leidenschaftliches Kindergebet: „Lieber Gott, mach', daß ich hübsch bin, daß ich viele Kavaliere bei Hofe habe und daß Mama lange lebt.“

Dagmar Sitte gibt in dieser Rolle ihr Bühnendebüt nach dem Schauspielstudium an der HdK. Sie spielt Mademoiselle Marie als fragilen Trotzkopf mit großen Kulleraugen und Stirnlöckchen. Die nervösen Bewegungen ihrer Hände verraten Maries innere Unruhe hinter der zur Schau gestellten stolzen Überlegenheit. In den besten Momenten der Inszenierung von Ingrid Ernst erinnert Marie an Heldinnen aus Dostojewskis Romanen, an all die jungen Frauen in ihrer fiebrigen Reinheit, ihrem fanatischen Stolz. Aber insgesamt erscheint Mademoiselle Marie doch nur als überspanntes Kind, rührend und ein bißchen komisch – die Stärke und Energie der historischen Marie mag man ihr nicht recht abnehmen.

„Mademoiselle Marie“, die letzte eigene Premiere im Modernen Theater, ist eine deutsche Erstaufführung. Entdeckungen gehören zum Programm des Theaters. „Ich wollte mich um das unbekannte Stück kümmern, das auf den großen Bühnen nicht gespielt wird“, sagt Ingrid Ernst, die das Moderne Theater Berlin vor vier Jahren gegründet hat. Zuvor hatte sie Gastregien in Münster, Hamburg, Köln, Berlin und am Modernen Theater in München geführt, nach dem auch die Berliner Neugründung benannt wurde.

14 Eigenproduktionen, sechs Koproduktionen und 19 Gastspiele wurden seither dort gezeigt, zum Großteil Stücke aus dem 20. Jahrhundert. Besonders die Eine- Frau-Stücke haben das Profil des Theaters geprägt: der Versuch, Gedanken- und Gefühlswelten ohne äußere Handlung auf die Bühne zu bringen: Prosatexte von Ingeborg Bachmann und Christa Wolf, Gedichte von Sylvia Plath. Nebenher fanden regelmäßig literarische Abende statt. Mit den Jahren hat das Theater ein sehr gemischtes, aber treues Stammpublikum bekommen.

Trotzdem wird es zum Jahresende geschlossen: Ingrid Ernst hat die ehemalige Remise in einem Schöneberger Hinterhof gekündigt. Denn der Raum ist so klein, daß er nur eine bestimmte Art von Inszenierungen zuläßt. Größere Produktionen sind auf der 16-Quadratmeter-Bühne nicht zu realisieren. „Bei fünf Personen stößt das Theater schon an die Grenzen“, sagt Ingrid Ernst. „Natürlich könnte man die Serie mit den Solostücken noch weiterstricken. Aber ich möchte auch einmal etwas anderes machen, nicht immer diese Kleinteiligkeit, immer Kammerspiel, immer feinziseliert. Das Theater ist jetzt auf dem Höhepunkt – aber eine Weiterentwicklung ist nicht möglich.“

Nicht nur aus künstlerischen, auch aus finanziellen Gründen wird das Theater geschlossen. Trotz der Zuschüsse aus der Spielstättenförderung der Kulturverwaltung ist das Geld chronisch knapp. Denn auch an ausverkauften Abenden sind die Einnahmen mager, weil der handtuchschmale Zuschauerraum nur 60 Plätze hat. Für Gagen, Technik und Werbung bleibt kaum etwas übrig. „Ganz viel Energie geht erst mal darein, bloß das Gebäude zu finanzieren“, erklärt Ingrid Ernst. Und das, obwohl es weder Garderoben für die Schauspieler noch einen Raum hinter der Bühne gibt. Der einzige Bühneneingang führt direkt auf den Hof. „Die Schauspieler müssen mit dem Regenschirm auftreten, wenn's regnet.“

Als letzte Gastproduktion wird ab dem 11. November das Stück „Shanghai – erster Klasse“ gespielt. Danach will Ingrid Ernst selbst wieder Gastregien führen. „Die letzten vier Jahre waren eine schöne Zeit“, meint sie. „Aber das Ende bedeutet für mich nur eine Weiterentwicklung, einen Aufbruch zu neuen Ufern.“ Miriam Hoffmeyer

„Mademoiselle Marie“, bis 30.10., 20.30 Uhr, Modernes Theater, Merseburger Str.3, Schöneberg.

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