: Eine Unterhose als aufgeplusterter Macho
■ In Senftenberg fand das zweite Arbeitstreffen Freier Kindertheater statt
„Ich will aber Anarchie im Theater!“ Dieter Kümmel, Leiter des Freiburger Theaters im Marienbad, platzte allmählich der Kragen. Beim Arbeitstreffen der Freien Kindertheater in Deutschland im brandenburgischen Senftenberg hatte Rosemarie Pilz, Referentin im Bildungsministerium des Landes, gerade etwas über „den großen Stellenwert von Spiel als Freiraum im Schulbereich zur Entfaltung von Kreativität“ gefaselt und der Intendant des Senftenberger Theaters Heinz Klevenov über „die therapeutische und pädagogische Aufgabe des Kindertheaters“ doziert, als Kümmel endlich mal Tacheles redete: Er wolle verhindern, daß das „Theater in die Hände der Lehrer fällt“, so Kümmel, die „doch nur ihre Erziehungsziele durchsetzen wollten“. Statt staatstragendem Theater forderte er „nonkonformistische Betrachtungsweisen“, „Moral und Politik hinterfragen“. Klare Worte waren nicht nur hier nötig, denn was auf dem „Spurensuche“ betitelten Theaterfestival in der kleinen Bergbaustadt geboten wurde, war zum großen Teil alles andere als modernes Kindertheater.
So fiel die Inszenierung des eigentlich tiefsinnigen Öko-Krimis „Die Geschichte vom Baum“ durch das piccolo Theater aus Cottbus vor allem durch ihre Gedanken- und Absichtslosigkeit auf; das Tanztheater Monteure aus Köln beschäftigte sich auf reichlich pathetische Weise mit der „Brutalität der Medien“, indem es die Bühne unter Unmengen von alten Zeitungen begrub. Märchen und Sagen wurden vom Nürnberger Theater Mummpitz und vom Weiten Theater aus Berlin bemüht, während das belgische Agora-Theater die melancholische Geschichte eines im See versunkenen Dorfes zum Anlaß nahm, um eine anfangs weiße Bühne in einen einzigen großen Farbklecks zu verwandeln. Zwei Produktionen ragten heraus: „Theaterwerkstatt Pilkentafel“ nennen sich die Flensburger, die aus einem „Waschtag“ – so der Titel ihrer Produktion – eine Reise in die Phantasie machen. Bevor die Wäsche an der Leine hängt, wird aus einem zartgelben Kopfkissen ein Drachenkopf, eine Socke wird zum Hühnerbein und eine Unterhose zum aufgeplusterten Macho. Das alles zu Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“. Mit seiner Detailfreude und seinem skurrilem Humor konnte dieses manchmal etwas wehmütige Stück für ganz junge Zuschauer wirklich begeistern.
„Wer hat meinen kleinen Jungen gesehen“ vom AktionsTheater Kassel erwies sich ebenfalls als Glücksfall einer Inszenierung, in der sich streßgeplagte Eltern kleiner Nervensägen wiedererkennen dürften. „Wir haben unseren kleinen Jungen verbummelt“, stellen Kamiel und Lunter, zwei kauzige Gestalten, überraschend fest, und fangen an zu suchen: In ihren vielen Holzkisten könnte er sein oder unter der Motorhaube eines abgehalfterten alten Pritschenwagens. Der steht mitten auf der Bühne, wie eingeschneit in einem kleinen Sandhaufen und scheint schon eine Ewigkeit nicht von der Stelle gekommen zu sein. Ihre aus Sehnsucht und Sorge um das angeblich verlorene Kind entstehenden Streits wirken merkwürdig absurd, und trotzdem treffen sie reale Gefühle und Gedanken sowohl der Eltern wie der Kinder.
Veranstaltet wurde „Spurensuche – Arbeitstreffen der Freien Kindertheater“ von der deutschen Sektion der Assitej (Association Internationale du ThéÛtre pour L'Enfance et la Jeunesse) der internationalen Interessensvertretung der Kinder- und Jugendtheater. Die internationale Assitej, mit Generalsekretariat in Paris, wurde 1966 mit dem Ziel gegründet, die „kulturpolitische Gewichtung des Theaters für Kinder und Jugendliche zu stärken“. Sie ist der Unesco assoziiert und setzt sich aus 46 nationalen Sektionen zusammen. Dem deutsche Verband gehören 98 Theater an, dazu kommen Verlage, Verbände und Einzelpersonen. Vorrangiges Ziel der „Spurensuche“ ist der Wunsch, „den Freien Kindertheatergruppen ein Forum zu schaffen, das eine Alternative zur gängigen Praxis bietet, die da lautet: Wo zwei oder mehr Freie TheatermacherInnen zusammenkommen, wird nur über Geld geredet“, so die Organisatorin des Festivals, Cathrin Blöss. Vor zwei Jahren fand das erste Treffen in Hamburg statt, und es „kam tatsächlich zu einer gemeinsamen Annäherung an den heiklen Begriff der theatralen ,Qualität‘, wie sie bisher wohl selten erreicht wurde“, meint Blöss. Letzte Woche in Senftenberg konzentrierte sich die Diskussion auf die Qualität von Arbeitsbedingungen: Wie entgeht man den negativen Auswirkungen von notorischer Unterfinanzierung und permanenter Überarbeitung auf die künstlerische Produktion? Kann die scharfe Trennung zwischen künstlerischem Anspruch und ökonomischem Prinzip (mit einem Minimum an Mitteln ein Maximun an Erfolg) zur gewünschten Veränderung führen? Neben der Diskussionsrunde wurden in Senftenberg auch fünf theaterpraktische Werkstätten angeboten. Die Kurse waren bei den über einhundert TeilnehmerInnen beliebt und voll ausgebucht.
Dieter Kümmels Freiburger Theater im Marienbad hatte kein fertiges Stück dabei, zeigte aber drei kurze, mit großer Intensität gespielte Szenen des zur Zeit geprobten Projekts „Voyeurs“ – was ganz im Sinne des Arbeitscharakters des Festivals war.
Der von Kümmel und allen anderen Assitej-Mitgliedern gewünschte Diskussionspartner aus der Politik erschien nicht. Brandenburgs Kulturminister Hinrich Enderlein ließ mitteilen, er sei leider in einem Stau hängengeblieben und wieder umgekehrt. Regina Weidele
Die „Schriftenreihe der Assitej“ (Band 1 bis 4) ist zu beziehen über Assitej e.V., Geschäftsstelle, Schützenstraße 12, 60311 Frankfurt am Main.
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