: Was signalisiert die Sonnenblume?
■ Wie kommt Berlin zu neuen Mehrheiten? / War am Wahldebakel der Ostgrünen die unpopuläre Aufarbeitung schuld oder der von Westlern geplante Wahlkampf? / Fehlt den Grünen Radikalität oder "positive...
Das enttäuschende Ergebnis der Bundestagswahl für das Bündnis 90 in Ostdeutschland und in Ostberlin hat zu heftiger Kritik an den Ostgrünen geführt. Aufgeschreckt sind auch die Grünen in Berlin: eine Ablösung der Großen Koalition durch ein rot-grünes Reformbündnis bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus in einem Jahr ist bei den gegenwärtigen Ergebnissen von Bündnis 90 in Ostberlin unrealistisch. Über Ursachen und Aufgaben diskutieren Renate Künast (West), Mitglied des Abgeordnetenhauses, Uwe Lehmann (Ost), Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90, und Erhard Müller (gelernter Ostler), Mitglied des Sprecherrats der Bürgerbewegung. Die Debatte wird fortgesetzt.
taz: Was ist falsch gelaufen?
Künast: Wieso eigentlich soviel Frust? In Bonn zumindest sind wir drittstärkste Partei geworden. Wir haben aber den Fehler gemacht, daß wir uns Deutschland geographisch aufgeteilt haben: Die Westgrünen machen Westpolitik und die Bündnis-90-Leute orientieren sich zu den neuen Bundesländern. So haben wir Westthemen versehen mit einer Ostprominenz, die den Schwerpunkt auf das Aufarbeiten legte. Da haben auch die Westler versagt, weil wir es nicht geschafft haben, uns schon sehr viel früher darüber zu streiten und gemeinsam andere Schwerpunkte zu setzen. Wir haben den Leuten die persönliche Aufarbeitung gelassen, haben uns nicht gestritten, sondern Kritik unter den Teppich gekehrt.
taz: Lehmann und Müller kritisieren, das Bündnis 90 konnte im Osten gar keine originäre Stimme sein, weil es zu west-dominiert ist.
Künast: Die Inhalte von Gerd Poppe, von Wolfgang Templin und Marianne Birthler, die hat doch keiner aus dem Westen bestimmt. Womit sich Marianne Birthler in Brandenburg präsentiert hat als Bildungsministerin, das war am Ende das Thema Aufarbeitung.
Lehmann: Das ist eine falsche Wahrnehmung. Man kann nicht sagen, wir haben die Vergangenheitsbewältigung in den Vordergrund gestellt. Aber dieses Thema ist wichtig und hat einen durch und durch politischen Anspruch, nämlich daß Politik auch etwas mit Moral zu tun hat. Offenbar gibt es in dieser Frage keinen ost-west-übergreifenden Konsens mehr. Deshalb haut es in unserer Partei nicht hin, wenn die falschen Leute einen moralischen Anspruch haben und der sich dann auch noch mit Leuten aus der CDU deckt. Ich lasse mir aber nicht schon wieder einreden, daß mein „Klassenstandpunkt“ nicht gefestigt ist, und ich lasse mich nicht ständig in diese Lagermentalität einbauen. Natürlich will uns dort die CDU auch funktionalisieren, aber es gibt parteiübergreifend eben auch gleiche Einschätzungen über das Wesen der DDR-Gesellschaft. Und es gibt bei uns eben Leute, die das alles nicht so sehen und eine andere Erinnerung haben. Solange dies so ist, wird es darüber Streit geben.
Außerdem: Wenn man in Brandenburg Wahlkampf gemacht hat und der Name Marianne Birthler fiel, dann fiel der nicht wegen Stolpe und Aufarbeitung, sondern dann wurde ihre Bildungspolitik hinterfragt, so wie in Mecklenburg-Vorpommern die Verkehrspolitk mit dem Autobahnbau und in Sachsen unsere Position zum Polizeigesetz.
taz: Das sind doch alles hausgemachte Probleme, kein Ergebnis von Westdominanz.
Müller: Das war ein wesentlich im Westen konzipierter Wahlkampf, der im Osten realisiert wurde. Nehmen wir allein die Wahlplakate: Die Sonnenblume signalisiert so etwas wie sommerfrisches Lebensgefühl, und dieses Lebensgefühl ist nicht das, was die Gesamtsituation in der Ex-DDR prägt. Das meinen wir, wenn wir sagen, die Leute sind zuwenig dort abgeholt worden, wo sie sind, und es ist zuwenig betont worden, daß es um Aufbau Ost geht und nicht um Nachbau West.
Künast: Das ist doch Quatsch. Marianne Birthler ist noch Sprecherin des Bundesvorstands, die Bundestagsgruppe hat die letzten vier Jahre nur aus Bündnis-90- Leuten bestanden. Ich fand den Wahlkampf in seinen Herbstlaubfarben auch komisch. Einflußmöglichkeiten aber gab es. Für mich ist viel wichtiger: was heißt es, Leute dort abzuholen, wo sie sind? Für mich ist Aufarbeitung sehr wichtig, und das habe ich im Parlament intensiv betrieben. Aber ich weiß, daß man mit keinem Menschen Politik machen oder irgend etwas gestalten kann, wenn der die ganze Zeit das Gefühl hat, du würdest seine Lebensleistung nicht akzeptieren. Unseren Zielgruppen, den Mitgliedern des akademischen Mittelstands oder Frauen, die mit der Verschlechterung ihrer Situation konfrontiert sind, kannst du nicht anbieten, vergiß zehn, zwanzig Jahre deines Lebens, war alles Schrott. Wenn wir den Leuten nur vermitteln, du sollst aufarbeiten und immer sagen, du warst da schlecht und da warst du feige, dann würde ich da auch nicht hingehen. Das ist der Punkt, den wir verpaßt haben. Wir verschnarchen mit Blick nach gestern die heutige Politikgestaltung.
Lehmann: Es ist richtig, daß auch Ostler am Wahlkampf-Konzept beteiligt waren. Wenn ein paar Ostler ständig nach Bonn fliegen, heißt das aber noch lange nicht, daß sie dort Einfluß haben. Ein Fehler war sicher, daß wir einen Wahlkampf durchgezogen haben, der für ganz Deutschland konzipiert war, für den Osten und den Westen. Ich habe an Wahlständen und Kneipentischen fast nie gehört „Ihr mit eurem Stolpe“, sondern immer nur gehört: „Wat, Ihr wollt fünf Mark für das Benzin haben?“. Das war absurd. In Hamburg und Frankfurt/Main, wo viele wohlhabende Leute wohnen, wo das grüne Milieu intakt ist, da wirkt so etwas völlig anders als in Leipzig oder Erfurt.
Künast: Die PDS hat es einfacher als wir. Sie schauen immer, wo ist im Osten die Wut der Menschen, der Ärger, der Frust, und das formulieren sie. Wir haben das Problem, das wir zwei verschiedene Republiken darstellen müssen. Wer im Kapitalismus im Westen groß geworden ist und in relativem Wohlstand war, hat an Ökologie gedacht. Diese breite Schicht gibt es in den neuen Bundesländern eben gar nicht. Das haben wir zu spät formuliert.
Lehmann: Wenn die CDU und die PDS die einzigen Parteien sind, die im Osten auf ein gewachsenes Milieu bauen können, dann muß doch mein Hauptproblem sein, wo krieg' ich das her? Wie sieht ein Wahlkampf aus, wie sieht die Zeit zwischen den Wahlkämpfen aus, wie sehen die Themen aus, wie müssen die Menschen aussehen, die auf andere Menschen zugehen, um dieses Milieu herzustellen? Und da zweifle ich, daß wir in den nächsten zehn Jahren dasselbe Milieu herstellen können, wie es in den Großstadträumen des Westens für die Grünen da ist. Eine Ursache für den falschen Wahlkampf war, daß in einem Gutachten des Bundesvorstands stand, es gibt die selbe Wählerklientel für Bündnis 90 im Osten und im Westen. Das stimmt offenbar nicht.
taz: Woher kommt es, daß in Prenzlauer Berg zwölf Prozent erreicht wurden und in anderen Ost- Bezirken nur fünf Prozent? Ist das ein anderes Milieu, oder wird dort anders Politik gemacht?
Künast: Wir haben – sowohl in den Berliner Ostbezirken als auch in den neuen Ländern – ein Stück Bündnispolitik vergessen. Die Zusammenarbeit mit Gruppen ist an vielen Orten vernachlässigt worden. In Prenzlauer Berg hat sich das Bündnis 90 dagegen weitaus offener gezeigt. Alle Initiativen, die dasselbe wollten, rückten zusammen. Woanders aber haben wir uns abgeschlossen.
Müller: Im Unterschied zu anderen Ostbezirken gibt es in Prenzlauer Berg seit langem ein gewachsenes alternatives Milieu. Ich bin im Zweifel, ob das auf ganz Ostberlin übertragbar ist. Im übrigen gab und gibt es im Osten etliche kommunale Bündnisse, mit Bauernverband, unabhängigem Frauenverband, Bürgerbündnis oder dem Neuen Forum.
taz: Die PDS geht in Basisinitiativen. Müßten Sie nicht dasselbe tun und auch Berührungsängste gegenüber der PDS abbauen?
Müller: Eine Zusammenarbeit in Sachfragen gibt es doch längst – ebenso wie mit der CDU. Die PDS spricht die Menschen bei ihren realen Benachteiligungen an und baut daraus eine Ost-West-Konfrontation auf. Dieser Ostnationalismus kommt natürlich gut. Was eine parlamentarische Zusammenarbeit mit der PDS angeht, müssen wir fragen, ob Koalitionen oder Listenverbindungen mit der PDS nützen oder schaden. Ich meine, es wird uns extrem schaden.
Lehmann: Für mich ist die PDS eine ostdeutsche Volkspartei. Daß in fast allen Parlamenten nur noch drei Volksparteien sitzen, kommt auch durch die Gewöhnung an den vormundschaftlichen Staat, der in gewisser Hinsicht eben bequem und sicher war. Für mich ist die PDS aber zunächst einmal das Hauptproblem der SPD.
Künast: Ich teile diese Einschätzung nicht. Wir haben Überschneidungen unserer Wählerklientel mit der der PDS. Da bin ich ganz egoistisch: Diese drei bis vier Prozent will ich gerne haben. Ich halte es für falsch, immer wieder über die PDS zu diskutieren. Die von der PDS-Spitze angekündigten Veränderungen erwarte ich mit Interesse. Wenn dann am Ende irgenwelche Tolerierungsfragen stehen werden – schön. Aber die Frage, wie ich die PDS spalten kann, interessiert mich nicht.
Lehmann: Da sind wir gar nicht so weit auseinander. Ich habe aber – gerade in Berlin – den Eindruck, daß es bei einem Teil der Partei im Verhältnis zur PDS um das Eifersuchtsdrama geht, wer die wirklichen Linken im Lande sind. Die PDS ist aber keine linke Partei. Wenn sie das wirklich wäre, hätte sie nicht so viele Stimmen bekommen.
taz: Viele Grün-Wähler haben mit der Erststimme PDS gewählt...
Lehmann: ...insofern ist es in Berlin zu einer Verfremdung des eigentlichen Wahlergebnisses gekommen. Hier hat es die Polarisierung gegeben: Nur mit der Erststimme konnte man bestimmte Leute und die PDS in den Bundestag hineinbringen.
taz: Kann es da nicht auch inhaltliche Übereinstimmungen geben? Als links gilt gemeinhin die außerparlamentarische Arbeit und ein systemkritischer Ansatz.
Künast: Schon beim Slogan unseres Bundestagswahlplakats „Ein Land reformieren“ kommt doch keine Begeisterung auf. Das klingt wie: „Daran herumdoktern“. Mich erinnert das auch an moderate Herbstfarben, Schaukelstuhl und eine Tasse Darjeeling. Die PDS hingegen verbalisiert die Emotionalität, die Wut, den Ärger, die Kritik. Damit kann man Helmut Kohl ärgern, damit hat man jemanden im Parlament, der immer wieder die Grundsatzfrage stellt. Das haben die Westgrünen früher gekonnt. Mir ist daher der Begriff der „Reform“ zuwenig. Ich will nicht nur Regierung im Wartestand sein. Wir müssen uns unsere alte Radikalität zurückerobern. Wir müssen deutlich machen, daß wir – im Gegensatz zur PDS – nicht nur die Grundsatzfrage stellen, sondern auch reale Umsetzungsmöglichkeiten anbieten. Freude und Begeisterung für Wahlen kommt nur auf, wenn ich den Wählern sage: Ich habe noch einen Traum von einer Republik, die anders aussieht.
Müller: Was die Form betrifft, kann man sagen: Von der PDS lernen, heißt siegen lernen. Das Letzte wäre es aber, wenn wir nur unsere alte Radikalität „zurückerobern“ wollten. Darunter verstehe ich den Rückfall in die alten weltanschaulichen Sozialismus-Debatten und die systemoppositionelle Phrase. Wir müssen eine neue Art der konstruktiven Radikalität der Verantwortung entwickeln und nicht eine der dogmatischen Systemverweigerung.
Künast: Ich habe nicht die dogmatische Einsortierung gemeint. Ich will nur betonen, daß wir wieder grundsätzliche Fragen aufwerfen und nicht nur auf Zwischenschritte setzen dürfen.
taz: Wollen Sie im Osten den ökologischen Umbau hintenanstellen und sich auf ein moderates Wachstum konzentrieren?
Müller: Das ist doch kein Gegensatz. Wir können den Aufbau Ost nicht mit dem Abbau einer überzogenen Weststruktur gleichsetzen. Das heißt: Natürlich müssen wir die Mittelstandsentwicklung im Osten positiv begleiten, um im ökologischen Sinne darauf Einfluß zu nehmen.
Künast: Du kannst nicht Ökologie zwischendurch streichen und dann nach zehn Jahren wieder ins Programm hineinschreiben...
Lehmann: Offenbar ist das traditionelle Konzept von CDU und SPD für die Ostwähler einprägsamer. So stimmen, trotz aller Vereinigungsprobleme, über die Hälfte der Arbeiter für die CDU.
Künast: Wir können aber nicht die Arbeiter, die CDU oder PDS wählen, für uns gewinnen. Diesem kleinbürgerlichen Mittelstand brauchen wir uns nicht anbiedern. Wir werden unsere Stärke nicht unter den Handwerksmeistern, sondern in der Intelligenz, in der Frauenpolitik, in jenen Bereichen der Jugend, die für ökologische Themen sensibilisiert sind, finden.
Müller: Ich bin dagegen, einen Kriterienkatalog aufzustellen, der festlegt, an welchen Schichten wir weniger oder mehr Interesse haben sollten. Wenn wir nicht selbst die Wirtschaftsentwicklung im Osten mit unseren Konzepten politisch positiv begleiten, sorgen wir dafür, daß unsere Basis uns auf Dauer entzogen bleibt.
Lehmann: Ich bin der Überzeugung, wenn im Osten nichts eigenes wächst, dann wird es immer eine Westdominanz geben. Und da wächst nichts. Im Gegenteil. Ich beobachte in den letzten Wochen, daß die Resignation und die Fluktuation immer größer werden. Bevor wir an die Wählermotivierung denken, müssen überhaupt erst einmal die motiviert werden, die noch da sind und die 1995 Wahlkampf machen und Mandate übernehmen müssen. Und wenn in den nächsten Wochen nicht aktive Basispflege erfolgt, dann wird aus Resignation bald Fluktuation. Mir scheint, daß der Berliner Landesvorstand dafür kein Konzept hat.
taz: Müssen sich die Westgrünen im Ostteil mehr einmischen?
Künast: Wir müssen uns einmischen, aber nicht aus der luxurierenden Position, daß wir besser Bescheid wissen. Wir dürfen diese Trennung nicht zulassen, daß die einen das besser wissen und die anderen dafür zuständig sind. Wer Jugendpolitik macht, muß sie für Ost und West machen. Das gilt unabhängig davon, ob die Person gelernter Ossi oder Wessi ist.
taz: Schluß mit der Politik der geographischen Trennung?
Lehmann: Das Problem ist, daß sich die geographische Trennung nicht aufhebt, sondern sich sogar vergrößert. Warum kommen die Delegierten aus Köpenick weniger zum Landesausschuß als die Spandauer? Warum gehen Ostberliner Mitglieder kaum zu den inhaltlich arbeitenden Bereichssitzungen? Warum sind die Ostler im Landesvorstand nicht so wirksam? Da hat offenbar nie jemand nachgefragt. Das aufzuheben reicht eine Wahlkampftour durch die Bezirke nicht.
Das Gespräch führten Severin Weiland und Gerd Nowakowski
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