: Wer mit dem Strom schwimmt
Blicke auf der Oberbaumbrücke fünf Jahre nach der Maueröffnung: Ein idyllisch-toter Grenzübergang und ein Platz für Stau-Freaks ■ Von Hannes Koch
Elisabeth Paselowski kannte die Zöllner am Grenzübergang Oberbaumbrücke gut. „Es waren fast immer dieselben, die saßen da jahrelang.“ Wenn Frau Paselowski ihren Hund ausführte – mindestens dreimal am Tag –, grüßte sie die Beamten. Hin und wieder wechselte sie auch ein paar Worte mit ihnen, denn viel hatten sie in ihrem kleinen Diensthaus nicht zu tun. Der Andrang von WestberlinerInnen, die Verwandte in der DDR besuchten, hielt sich am Spreeufer im hintersten Winkel Kreuzbergs in engen Grenzen.
Elisabeth Paselowski wohnt seit 1923, seit ihrer Geburt, direkt an der Oberbaumbrücke, in der Falkkensteinstraße. Früher, in den 20er und 30er Jahren, war „ganz schöner Betrieb“ unter ihrem Wohnzimmerfenster im ersten Stock, weil unablässig Straßenbahnen, Pferdefuhrwerke und die Hochbahn die Brücke nach Friedrichshain überquerten. „Aber Autos fuhren nur ganz wenige“, erzählt die Kreuzbergerin. Seit dem Mauerbau 1961 war Schluß mit dem ganzen Verkehr. „Da war das hier ein ganz ruhiger und toter Winkel, aber nicht langweilig.“ Unter der zugereisten Kreuzberger Szene aus Westdeutschland war die idyllische Ecke an Spree und Landwehrkanal als „Klein-Amsterdam“ oder auch „Klein-Venedig“ bekannt, weil die baumbestandenen Ufer eine Mixtur aus heiler Natur und großstädtischem Flair boten.
Unter dem Fenster von Elisabeth Paselowski ist heute wieder Hochbetrieb. Bagger, LKWs, Betonmischer schieben sich über das Kopfsteinpflaster der Falckensteinstraße. Die Bauarbeiten für die Wiedereröffnung der Brücke liegen in den letzten Zügen. Am 9. November, exakt fünf Jahre nachdem die Mauer auch hier für Zehntausende Menschen durchlässig wurde, will der Senat die zentrale Verbindung, die dann einen Teil des vierspurigen Innenstadtrings rund um die City darstellt, für den Autoverkehr freigeben. Und zwar nur für diesen. Die Arbeiten an der Hochbahn zur S-Bahn-Station Warschauer Straße werden sich mindestens bis Herbst 1995 hinziehen. Für die Straßenbahn gibt es keinen Termin, und Busse sind gar nicht erst vorgesehen.
Mareike, Stefan und Michael wohnen einige Stockwerke höher. Aus den Fenstern ihres ausgebauten Daches geht der Blick bis zum Schlesischen Tor, wo die U-Bahn- Linie 1 endet. Über die Schlesische Straße, die Köpenicker und die Skalitzer quälen sich aus allen Richtungen Karawanen von Autos zur Kreuzung, um nach Treptow oder Mitte zu gelangen. Schon heute ist kaum ein Durchkommen, doch in Zukunft werden bis zu 60.000 Autos täglich das Schlesische Tor passieren.
Die drei DachgeschoßbewohnerInnen arbeiten in der Initiative Oberbaumbrücke und blockieren seit Monaten vierzehntäglich die Autos auf der Schlesischen Straße unweit des U-Bahnhofs. Allerdings stellen sie sich mit ihrem Transparent nur auf die Straße, wenn die Fußgängerampel Grün zeigt, denn die Aktionen sind legal bei der Polizei angemeldet. Doch selbst diese Nadelstiche wider den Blechstrom verlängern den Stau jedesmal um einige hundert Meter. Die Protestaktionen bieten Abgase, Streß und Hektik pur. Mancher Autofahrer – darauf bedacht, so schnell wie möglich von der Arbeit nach Hause zu kommen – fährt bis auf wenige Zentimeter an die Blockierer heran und läßt im Leerlauf den Motor aufheulen. Einmal fuhr ein Lkw einfach durch, und sogar Polizisten mußten sich schon durch einen Sprung zum Bürgersteig retten.
Michael wird trotzdem nicht müde, per Lautsprecher die Kreuzung zu beschallen. Heftig redet er über die Autokolonnen, die die Wohnviertel kaputtmachen, empfiehlt den AutofahrerInnen, auszusteigen, weil sie mit ihren Blechkisten ohnehin nicht mehr vorwärts kämen, und polemisiert gegen die verfehlte Verkehrspolitik des Senats, der nur im Sinn habe, mittels des Innenstadtrings das spätere Regierungsviertel vom Durchgangsverkehr freizuhalten. Vom Dach des Hauses in der Falckensteinstraße kündet seit langer Zeit ein Spruchband: „Wer mit dem Strom schwimmt, landet im Regierungsviertel.“ Das bekannte Logo der Initiative zeigt ein dreieckiges Warnschild, auf dem ein Kraftfahrzeug vom Ufer ins Wasser stürzt.
Seit Michael kurz nach der Maueröffnung in die hinterste Ecke des Kiezes gezogen war, war für ihn die Brücke ein ganz besonderer Ort. Der jahrelang autofreie Steg zwischen Ost und West „war meiner“. Oft habe er dort den Sonnenuntergang betrachtet. „Und wenn ich nachts nicht schlafen konnte, bin ich runtergegangen auf die Brücke und habe mich in den Wind gestellt.“ Dort habe er einen Hauch davon verspürt, was es heißt, sich den Naturgewalten auszusetzen – ein in der Stadt seltenes Gefühl. Auch andere Leute schätzten den außergewöhnlichen Platz: „Immer saß jemand mit einer Flasche Wein auf den Pfeilern am Wasser, und die Liebespaare drückten sich in den Ecken der alten Hochbahntürme.“
Ein fliegender Händler mit Goldkettchen, Taschenlampen und Kassetten gehörte ebenso zu den Institutionen der Brücke wie die Imbißstation am Friedrichshainer Ende. Dort verleibten sich OstberlinerInnen auf dem Heimweg ihre Currywurst ein und ließen sich beim Bier von der Politszene schon mal auf die schädlichen Auswirkungen des Autoverkehrs ansprechen.
Damals kamen Michael und andere auf die Idee, „daß wir uns die Brücke nehmen müssen“. Es folgte eine Besetzung, die aber nach wenigen Tagen von der Staatsmacht geräumt wurde. Jetzt, kurz vor der Eröffnung, meint der Brückenkämpfer: „Was war das damals ein Luxus! Einen solchen Treffpunkt kann man mit Geld nicht aufwiegen. Wenn das erhalten bliebe, würde ich sogar in Kauf nehmen, daß hierher so viele Touristen kommen wie zum Brandenburger Tor.“
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