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Press-SchlagDer Beste ist verrückt

■ Deutsche Handballer präparieren sich ansprechend auf die WM

Früher, erinnert sich der Handballspieler Stephan Kretzschmar (21), habe man ihn zur Anpassung gezwungen. Lange Haare waren tabu, Rauchen und Biertrinken Anlaß, aus dem Klub geworfen zu werden. Früher ist für den Linksaußen die Zeit vor der Wende. Früher war der SC Dynamo Berlin. Heute spielt der gebürtige Leipziger in Gummersbach, raucht, trinkt Bier und zeigt der oberbergischen Provinz auch sonst den Rebellen: Die Frisur geriet so extravagant, die Seiten kahl, die zentralen Strähnen lang, zum Zopf geknotet, daß der Kompromiß eigentlich keiner mehr ist. Und das Totenkopf-Tattoo auf dem linken Arm hat in seiner spießigen Wahlheimat erst gar Befürchtungen aufkommen lassen, der Neue besitze Knasterfahrung.

Spätestens aber seit der Wilde auf der Spielfläche links draußen genauso verrückt agiert wie sein Äußeres erwarten läßt und sich heftig bemüht, mit einem schier unerschöpflichen Repertoire an Drehern und Trickwürfen den Erfolgshunger des angepaßten Publikums zu stillen, haben sie in Gummersbach all seine Eigenheiten akzeptiert.

Weil der Bundestrainer Arno Ehret (40) sowieso findet, es bedürfe „einer Spur Verrücktheit, um bei den ganz wichtigen Spielen noch das Sahnehäubchen draufsetzen zu können“, darf Kretzschmar seit einem Jahr regelmäßig auch zu den Unternehmungen der Nationalmannschaft anrücken. Als die enttäuscht als EM-Neunter im Sommer aus Portugal zurückkehrte, gehörte der Linksaußen zu den „Babies“, die, wie der nachsichtige Ehret der Süddeutschen Zeitung gestand, „mal Blödsinn machen“.

In der Vorbereitung auf die WM im Mai in Island durfte Ehret am Wochenende nun beim freundschaftlichen Vier-Nationen-Turnier mit ansehen, wie sein Team „stabiler, abgeklärter“ mit den Gegnern umging. Auch bei Kretzschmar beobachtete der Coach eine gewachsene Beständigkeit. Die Siege gegen Ungarn (30:17) und Kroatien (23:21) sowie das Unentschieden gegen Rußland am Sonntag (21:21) reichten wegen des schlechteren Torverhältnisses letztlich zwar nur zu einem zweiten Platz hinter dem Olympiasieger und Weltmeister, aber Ehret war dennoch „sehr zufrieden“. Entscheidender als der Zieleinlauf bei einem solchen „Kirmesturnier“, wie das Handball-Magazin angesichts der offiziellen Bedeutungslosigkeit der Veranstaltung respektlos schrieb, durften für den Bundestrainer die gewonnenen Erkenntnisse zum Abschluß der Lehrgangswoche sein. 31 Spieler hatte Ehret in zwei Kadern beisammen, und die Enttäuschungen des stets differenzierenden Bundestrainers hielten sich in Grenzen. Insbesondere die Einsätze der A-Kader-Neulinge gelangen zufriedenstellend: Der Kieler Rechtsaußen Schmidt, Ehret zufolge Nutznießer des „Zehn-Negerlein-Prinzips“, als sich auch noch der vielversprechende Düsseldorfer Rohtenpieler am Freitag gegen Ungarn verletzte, spielte „sehr solide, ohne Fehler“. Vigantas Petkevicius, mit Länderspiel- Einsätzen für die UdSSR und Litauen ein Wanderer zwischen den Welten, nun im mittleren Magdeburger Rückraum zu Hause, erhielt sein Lob für „die Spielintelligenz“ sowie die „gute Beweglichkeit“, ließ sich allerdings oft zu überflüssiger Hektik und Fehlern provozieren. Weitgehend überzeugend auch die Auftritte des Hamelners Fegter, der die Einsatzfrequenz des gestandenen Niederwürzbachers Hartz auf ein Minimum reduzierte.

Damit kommt Ehret zwar langsam, aber doch Schritt für Schritt seiner Prämisse näher, „jede Position nicht nur doppelt, sondern dreifach zu besetzen“, Genaueres sagen, Namen nennen werde er, sagt der Bundestrainer, allerdings erst im März. Geht es nach der Meinung der Fachjournalisten des Wochenendturniers, sind zumindest zwei Positionen unumstritten: Der nach seinem Schien- und Wadenbeinbruch wieder genesene Andreas Thiel, der Rechtsanwalt, den sie nur „Hexer“ nennen, wurde zum besten Torhüter gekürt; das Ex- Baby Kretzschmar gar, Rechtsaußen und Ehrets Mustermann für Verrücktheiten, triumphierte als „bester Spieler des Turniers“. Der lasterhafte Mann wird gewußt haben, was zur Belohnung winkte: Er durfte ein Fäßchen vom bierbrauenden DHB-Sponsor mit nach Hause nehmen. Jörg Winterfeldt

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