: Ganz nah und doch so fern
Durch die Bouchéstraße (Neukölln/Treptow) verläuft die Mauer nicht mehr, aber ein Gang auf die andere Straßenseite ist oft noch ein Besuch „drüben“ ■ Von Barbara Bollwahn
Früher mußte Erika Schröder ihren Zeitungswagen in Maßarbeit durch die Bouchéstraße bugsieren. Ihr Wägelchen paßte gerade auf den Bürgersteig. Wenn ihr jemand auf dem engen Raum zwischen Häuserfront und Mauer entgegenkam, muß die Szene an die Fabel von den zwei Ziegenböcken auf der Brücke erinnert haben.
Vier Jahre lang steckte Erika Schröder im Windschatten des antifaschistischen Schutzwalls und in der Dunkelheit der Nacht das Neue Deutschland in Treptower Briefkästen. Damals, als die Mauer noch stand, fühlte sie sich „beschützt“, wenn sie morgens um drei allein unterwegs war. Angst hatte sie nicht. An den Anblick der monströsen Mauer hatte sie sich gewöhnt. Aber „jetzt ist alles aufwühlender“, sagt die Zeitungsausträgerin, die gleich um die Ecke in der Heidelberger Straße wohnt. Auch nach ihrer Arbeit hatte sie die Mauer stets im Blickfeld.
Jetzt hat sie zwar mehr Bewegungsfreiheit für sich und ihr Wägelchen, aber statt nachts Zeitungen auszutragen, bringt sie jetzt tagsüber die Post. Denn bereits vier Wochen nach Maueröffnung passierte ihr etwas, wovor sie früher nicht mal Angst zu haben brauchte: Sie hatte ihre nächtliche Tour gerade begonnen, erzählt sie, da habe sie ein Mann bis zum Eingang eines Hauses verfolgt, wo sie gerade die Zeitung einwerfen wollte. „In meiner Angst hab ich ihm die Tür vor der Nase zugeknallt“, erinnert sie sich. Die geschlossene Tür habe sie zwar vor dem Mann geschützt, sie selbst aber daran gehindert, das Haus zu verlassen. Viele Mieter, bei denen sie geklingelt habe, hätten sich nicht getraut, in diesen unsicheren Zeiten zu nachtschlafener Stunde zu öffnen. Schließlich habe ihr jemand geglaubt, daß sie die Zeitungsträgerin sei und sie hereingelassen. Bei der Polizei habe sie sich viele Fotos von Sexualverbrechern ansehen müssen. Passiert sei jedoch nichts. „Die Polizei hat sich nicht richtig gekümmert“, ist ihr Fazit.
Was auf der anderen Seite der Mauer längst Routine ist, war für sie „Neuland“. Auch wenn sie sich einige Wochen später wieder „gefangen“ hatte, kann sie das nächtliche Erlebnis nicht vergessen: „Die Angst ist da.“ Erika Schröder vermißt, wie viele im Osten, das Zusammengehörigkeitsgefühl von früher. „In unserem kleinen Kollektiv ist jetzt jeder mehr auf sich bedacht“, sagt sie traurig. Die 54jährige glaubt nicht, als Postbotin noch den Tag zu erleben, an dem beide Seiten der Bouché- und der angrenzenden Straßen von ein und demselben Zusteller beliefert werden.
Auch Gisela Schuster (Name geändert), die seit über zwanzig Jahren in der Bouchéstraße „West“ wohnt, hat beim Wechsel auf die andere Straßenseite schon noch das Gefühl, „drüben“ zu sein. Sie freut sich zwar, daß die Mauer, „das olle Ding“, endlich weg ist. Aber warum sollten die Menschen in dieser Gegend mehr miteinander zu tun haben als in einer „normalen Straße“, wo es keine Mauer gab? Jede Seite hatte sich an das Monstrum zwischen den Ost- und Westküchenfenstern gewöhnt und versucht, sich mit dem Mauerdasein zu arrangieren.
Sie erinnert sich noch genau, wie sie Harry Ristock, dem damaligen Baustadtsenator, einen Brief geschrieben hat, in dem sie die schlechten Parkmöglichkeiten auf dem engen Gehweg beklagte. Die Autos mußten, ähnlich wie Erika Schröder mit ihrem Zeitungswagen auf der anderen Seite, Millimeterarbeit leisten. Es habe zwar eine Begehung gegeben, aber da der Westgehweg fest in Osthand war, habe man nichts machen können. Jetzt, wo sie ihr Auto sogar schräg parken könnte, nützt es ihr nichts mehr. Sie hat es längst verkauft.
Als dann vor fünf Jahren die Mauer fiel, hatte sie das Gefühl, daß ein Traum in Erfüllung geht. Denn viele Jahre zuvor hatte sie geträumt, daß ihre Parterrewohnung plötzlich hell geworden sei, weil die Mauer nicht mehr das Licht nehme. Sie sei auf die Straße gegangen und habe überrascht festgestellt, daß ihr nicht das kleinste Hindernis mehr den Weg versperrte. An der Ecke habe ein Volkspolizist gestanden. Wie versteinert sei er ihr in ihrem somnambulen Erlebnis vorgekommen. Mehrmals habe sie auf seine Schulter getippt, um ihn auf die historische Neuigkeit hinzuweisen. Als der Vopo nicht reagiert habe, sei sie wieder schlafen gegangen und am nächsten Morgen in ihrer dunklen Wohnung aufgewacht.
„Wenn man menschliche Kontakte hätte, wäre es einfacher“, beschreibt sie das ambivalente Verhältnis zu der so nahen und doch so fernen anderen Straßenseite. „Ganz banale Gespräche über Butterpreise“ könnten vielleicht die unsichtbare Mauer einreißen. „Ich vereinnahme sie aber auch nicht“, gibt sie leise zu. Und manchmal möchte sie den Leuten „drüben“ zurufen, gelassener zu werden. Sie sei auch noch nicht in Paris gewesen. Und sie weiß nicht, wie lange sie noch jeder Straßenwechsel an einen Besuch „drüben“ erinnern wird.
Anastasia Hildebrandt, die nur wenige Meter weiter auf der anderen Straßenseite wohnt, ist da einen klitzekleinen Schritt weiter. Vor zwei Wochen sprach sie zum erstenmal mit einer Frau aus der Heidelberger Straße schräg gegenüber. Diese hatte all die Mauerjahre von ihrem Balkon aus, über Mauerkronen und Stacheldraht hinweg, ihr Blumenbeet wachsen sehen. Jetzt schaute sie sich die Astern, Rosen, und Studentenblumen zum erstenmal aus der Nähe an.
Da die meisten Mieter im Haus sich an den Kopf fassen, daß die 79jährige aus eigener Tasche Blumen kauft und diese ohne Bezahlung pflegt, freute sie sich ganz besonders, daß noch jemand außer ihr daran Gefallen findet.
Auch Anastasia Hildebrandt hatte, ähnlich wie Gisela Schuster, ein Prä-Mauerfall-Erlebnis. Zwei Jahre vorher hat sie in ihrem RFT- Fernseher eine Wahrsagerin gehört, die die „Einheit und tanzende Menschen auf den Straßen“ kommen sah. Sie habe es nicht geglaubt. Jetzt, da sie sich an ihrem „anderen Leben freut“, schaut sie weniger fern. Ihr DDR-Apparat ist sowieso nicht für die westliche Verkabelung ausgerüstet.
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