„Meinen Stall selbst ausmisten“

Fünf Jahre danach: Ein Bürgerrechtler, der damals im thüringischen Ilmenau in dem Stück „die Wende“ eine Hauptrolle spielte, findet sich heute als Nebendarsteller wieder  ■ Von Torsten Preuß

Ein Volk machte Theater. Niemals zuvor und nie mehr danach kamen so viele Haupt- und Nebendarsteller, Zuschauer und Statisten zusammen wie damals, im letzten Herbst der Deutschen Demokratischen Republik. Das Stück hieß: „Die Wende“. Die Bühne war die Straße. Übertragen wurde das Ereignis in die ganze Welt, und doch streiten sich die Beteiligten von einst noch heute, ob die Aufführung am Ende ein Erfolg war oder nicht.

Vielleicht liegt es daran, daß die Spielstätte nur ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, für immer geschlossen und verkauft wurde. Nicht wenige der Akteure von damals sind heute „schwer vermittelbar“ und verbringen eine Menge Zeit damit, nachzugrübeln, ob der Knall damals doch nur Theaterdonner war. So wie Thomas Apel.

Die Leute redeten ihn nicht mehr ungefragt mit du an

Wenn in diesen Tagen die Herbstsonne ihre letzten warmen Strahlen über den Thüringer Wald verteilt, sitzt der Vierzigjährige gerne auf seinem Balkon in der Plattenbausiedlung „Zum Stollen“ in Ilmenau. Dann denkt er zurück an den Herbst 89, „die Zeit, in der die alte Macht zerfallen und eine neue noch nicht existent war“, wie er sagt. In diesen Tagen war er einer der Hauptdarsteller der Wende in Ilmenau. Seitdem ist er eine Institution in der Kleinstadt. Rhetorisch begabt, redete er damals als Mitglied des Sprecherrates des Neuen Forums auf jeder Demonstration. Er wetterte über das örtliche SED-Bonzenheim und forderte zeitig den Rücktritt des „Genossen Vorsitzenden des Rates des Kreises“.

Die Menschen mochten ihn, weil er beim Sprechen was zu sagen hatte. Mit Worten, die sie verstanden. „Vielleicht liegt das daran, daß ich nicht aus der Ecke der Intellektuellen komme, sondern einfacher Arbeiter bin“, überlegt er und macht es sich auf dem engen Balkon bequem. Die Sonne scheint ihm direkt ins Gesicht. Das mag er. Wer die Sonne spürt, lebt.

Er war gerade zwei Jahre, als der grüne Star kam und ihm das Augenlicht nahm. Seitdem ist er blind. Die letzte Hoffnung auf Heilung zerbrach, als er 13 war: „Damals wurde klar, das Licht bleibt aus. Für immer.“

Der Blick ist tot, aber die Augen leben. Wenn er über den Herbst 89 erzählt, wandern sie aufgeregt von rechts nach links, von links nach rechts, so, als wollten sie beim Gegenüber die Begeisterung von damals lebendig werden lassen. O ja, die Zeit war schön. „Für einen Augenblick hatten wir alle die Chance, unsere Träume zu verwirklichen.“

Die größte Vorstellung der Wende fand in Ilmenau am 15. November 1989 statt.

Trotz Regen und Fußball im Fernsehen demonstrierten damals 20.000 Menschen für ihre Rechte. Sie erlebten das, was Thomas Apel für das wichtigste Ereignis dieser Zeit hält: den Sieg über sich selbst. „Wir hatten erreicht, daß die Menschen sich für ihr eigenes Ich interessierten, daß jeder für sich erkannte, welche Macht er besitzt, wenn er sie nur nutzt“, schwärmt er, und die Augen tanzen im blendenden Licht der Sonne hin und her.

Wie immer spürte er die Veränderung in seiner Umgebung zuerst an der Sprache: „Als die Leute mir erstmals zuhörten und merkten, der hat ja was zu sagen, redeten sie mich nicht mehr ungefragt mit du an.“

Und an der Hauptstraße von Ilmenau brauchte er nicht mehr solange zu warten, bis ein Auto für ihn bremste. Natürlich träumte er zu dieser Zeit noch von einer eigenständigen DDR. Zum ersten Mal ergab sich die Möglichkeit, diese Republik so zu gestalten, daß dableiben besser als abhauen war. Und darauf sollte er verzichten? Nein. Auch nicht für eine Handvoll Deutscher Mark. „Ich wollte mir das Recht erhalten, in meinem Stall selber auszumisten.“ Die Mehrheit im Volk sah das damals anders, änderte die Dramaturgie des Stückes und öffnete die Bühne für Gastdarsteller aus dem Westen. Die wußten viel besser, wie man Zuschauermassen begeisterte, und verdrängten die einheimischen Hauptdarsteller Akt für Akt hinter die Kulissen.

Für Thomas Apel war das so: „Erst hörte ich das Volk, dann ein Volk. Und dabei blieb es.“

Und heute? Traurig? Enttäuscht? Die Sonne über Ilmenau verschwindet langsam hinter Block drei der Neubausiedlung. „Man darf das alles nicht so schwarz sehen.“ Dann lacht er, steht auf, nimmt den weißen Blindenstock und macht sich auf den Weg ins Rathaus.

Um 16 Uhr beginnt die Stadtratsversammlung. Als Fraktionschef von Neuem Forum/Grünen ist er gefürchtet. Oberbürgermeister Seeber, CDU, holt dreimal tief Luft, bevor er anfängt über den Mann zu reden, der die Geschäftsordnung besser kennt als jeder andere: „Er ist ein Kämpfer, ein Idealist. Einer, der niemals aufgibt. Und einer, der ein Gedächtnis wie ein Elefant hat.“ Der katholische Pfarrer sagt über ihn: „Er verbindet Leidenschaft mit Wissen.“

Bis heute ist Thomas Apel seinen politischen Idealen treu geblieben. Zum Beispiel in keine Partei einzutreten: „Parteien sind Apparate für den Weg zur Macht. Sie machen zwangsläufig korrupt. Nicht finanziell, viel schlimmer noch: ideell.“ Er hat die lauten Versprechungen von vor fünf Jahren noch im Kopf. Abgespeichert in einer Art akustischem Archiv, ständig abrufbar, um zu erfragen, was daraus geworden ist.

Vielleicht ist Thomas Apel eines Tages das letzte Mitglied des Neuen Forums. „Kann sein.“ Er zuckt mit den Schultern.

Niemals aufgeben, darin kennt er sich aus. Seinen Vater hätte er auch ohne seine Krankheit nicht gesehen, seine Mutter zog ihn allein groß. Er kommt in eine Sonderschule für Blinde und Sehschwache. Der Lieblingsspruch der Lehrer: „Ihr werdet euch noch umsehen, wie hart es draußen wird.“

„Blinde waren wie Rentner. Sie kosteten den Staat einen Haufen Geld und brachten nichts ein“, erzählt er. „Deshalb konnten sie auch in den Westen reisen. Jeder, der dort blieb, war letztlich ein Gewinn für die DDR.“ Gegen solches Denken engagiert er sich im „Verband der Blinden und Sehschwachen“.

Dort macht er sich unbeliebt, weil er stur alles hinterfragt. Nur so kommt er an Informationen, die ihm helfen, das System, in dem er lebt, zu verstehen.

1977 schreibt er einen Protestbrief an Erich Honecker wegen der Ausbürgerung von Wolf Biermann. Der Staat entzieht ihm die Erlaubnis, in den Westen zu reisen. Nach dem Massaker in Peking, das er im West-Ost-Nachrichtenvergleich vor dem Fernseher mithört, stellen er, seine Frau und seine drei Kinder, die alle sehen können, einen Ausreiseantrag. „Ich wollte im Westen in der Bürgerbewegung mitarbeiten, ich wollte mich endlich engagieren.“ In der DDR war das unmöglich. Ein Blinder war im Untergrund leider nicht zu gebrauchen. Der Antrag wird abglehnt.

Heute ist er dafür dankbar. „So bekam ich eine Chance, meinen Traum zu verwirklichen.“

Im September 89 liegt er in der Augenklinik Suhl. Wie immer ist es ziemlich langweilig. Nur nachts, wenn die drei jungen Schwestern Dienst haben, wird es lustig. Mit ihnen kann er reden, auch über politische Sachen. Dabei hört er zum ersten Mal etwas von der Bewegung Neues Forum.

Eines Tages nehmen sie ihn mit in die Kirche der Stadt, zu einer Veranstaltung der Bürgerbewegung. An jenem Abend betritt Thomas Apel zum ersten Mal die Bühne der Wende. Er erzählt von der „Station D – D für delikat“, die in der Augenklinik für Parteikader reserviert ist. „Natürlich forderte ich gleich deren Abschaffung“, erinnert er sich lachend.

Fortan ist er im Sprecherrat des Neuen Forums. In dem Betrieb, in dem er als Telefonist arbeitet, wählen ihn seine 400 Kollegen 1990 zum Betriebsrat.

Als das Werk immer mehr Arbeiter entläßt, vergleicht er wieder mal seinen Anspruch mit seinen Taten: „Wir waren am Ende nur noch 70 Leute. Für die brauchte ich gerade eine Stunde, bekam aber den ganzen Tag bezahlt. Als Betriebsrat war ich ja auch unkündbar.“ Er rechnete aus, was er die Arbeiter, „die ja meinen Lohn mit finanzierten“, kostete, und entschied: „Das kann ich nicht verantworten.“ Er kündigte sich selbst.

Seine Frau Elke ist sich sicher: „Der läuft etwas neben der Mütze.“ „Na ja, das ist nicht das Schlechteste, was man über mich sagen kann“, meint er und gibt zu, daß er ein Träumer ist, betont aber, daß er froh wäre, wenn es davon 80 Millionen gäbe. Seit damals ist er arbeitslos, lebt von seiner Rente als Behinderter und von den Aufwandsentschädigungen als Volksvertreter.

Fünf Jahre macht er jetzt Basispolitik – eine Zeit der permanenten Anstrengung, zu beweisen, daß jemand, der nichts sieht, nicht auch den Durchblick verloren hat. Angebote anderer Parteien für ein Landtagsmandat hat er immer abgelehnt.

Nur einmal, im Juni 1994, wollte es auch Thomas Apel wissen. Er kandidierte für das Neue Forum bei der Wahl zum Oberbürgermeister der Stadt Ilmenau. Karrieregelüste? Er winkt ab: „Nach fünf Jahren Arbeit wollte ich meine Akzeptanz bei den Leuten testen.“

Übereinstimmend sagen die Gegenkandidaten, daß er derjenige war, der mit dem größten Wissen und oft auch den besten Argumenten für sich warb. Am Abend nach der Wahl tröstete er sich mit seiner Frau Elke und einer Flasche gutem Weinbrand über das Ergebnis: Ganze 8,6 Prozent gaben dem engagierten Mann der ersten Stunde ihr Vertrauen.

Vielleicht ist er einst der letzte beim Neuen Forum

Ein Bürgermeister müsse ja auch repräsentieren können, wurde ihm damals, mit Blick auf seine Behinderung, bedeutet. Er schüttelt den Kopf. „Repräsentieren? Ich wollte eigentlich arbeiten.“ Er steckte auch das weg. Richtig enttäuscht ist er nur von denen, die er einst bewunderte. Wenn er davon erzählt, stehen seine Augen fast still: „Ausgerechnet die Grünen wollten nicht akzeptieren, daß wir keine Partei sein wollen. Dabei hatten sie doch selber mal so angefangen. Wir wollen uns eben nicht diesem Fünfprozentdiktat beugen, sondern unabhängig bleiben.“

Nur hier im Stadtrat von Ilmenau ist die Verbindung Neues Forum/Grüne geglückt. Vier Jahre will er noch machen, dann hört er auf. Den Parteienkrieg um die Macht hat er satt. Politik ist und bleibt für ihn Miteinander, nicht Gegeneinander. „Zwischen Schwarz und Weiß ist doch der Regenbogen, oder?“ fragt er und wagt einen Blick in die Zukunft: „Meine Erfahrungen werde ich in den Aufbau von Selbsthilfegruppen einbringen in denen der einzelne wieder merkt, daß er selbst die Kraft zur Veränderung ist.“

Dann beginnt das Stück von vorn. Hat „die Wende“ dann ein neues Ende? Die Chancen stehen nicht schlecht – vorausgesetzt, ein Blinder führt Regie.