Theater aus der Mikrowelle

■ Ein Blick hinter die Bühne des Bremer Theaters, wo zur Zeit mit Hochdruck produziert wird

„Wenn ich das richtig rechnen würde, dann ist mein Stundenlohnzur Zeit bei 6 Mark angelangt. Im letzten Monat hab ich es hier auf 280 Stunden gebracht.“ Nikolaus Porz, Bühnenbildassistent im Bremer Theater, wirkt dennoch nicht unglücklich.

Premieren-Marathon nennt sich die neue olympische Disziplin, die in dieser Saison zum ersten Mal am Bremer Theater ausgetragen wird. Fast täglich hängen Plakate mit Ankündigungen neuer Stücke über dem Haupteingang. KritikerInnen und andere Theatersüchtige stürzen wieder und wieder an den Goetheplatz, um in vierzehn Tagen neun Premieren zu besichtigen.

„Hätten es vier oder fünf Produktionen nicht auch getan?“ meckern zwei Bremerinnen in der Kartenschlange, die sich zwischen den vielen Stücken nicht entscheiden können.

Schuld an der verwirrenden Vielfalt ist Klaus Pierwoß, der neue Intendant. Seit er Coach ist, hat die Theatermaschine ihren Stückausstoß enorm erhöht. Wird gedopt in den heiligen Hallen der Kunst, oder wie ist die künstlerische Potenzprotzerei zu erklären?

Dramaturg Ulrich Fuchs hält den Spielplan für November mit deutlichem Wohlgefallen und einem Anflug von Stolz in Händen: kaum weiße Flächen, jeden Abend geht der Vorhang hoch. „Gleich zu Anfang brauchten wir einen ganzen Schwung neuer Inszenierungen, um ein Repertoire zusammenzukriegen. Da für uns viele der alten Produktionen aus den Jahren unter Heyme ausfielen, weil die Schauspieler gar nicht mehr hier sind, mußten neue Stücke her. Wie sonst lassen sich fünf Bühnen den ganzen Monat über bespielen?“

„Das Problem ist nur mit Planung zu lösen“ weiß auch Hans-Peter Seeling und öffnet seine Geheimwaffe, das Dispositionsbuch. Wer, wo, was, auf welcher Bühne macht, ist hier verzeichnet. „In der Woche vom 10.10. haben wir gleichzeitig Hoffmanns Erzählungen, Jelena Sergejewna, Dario Fo, Othello und Hänsel und Gretel geprobt.“ Drei Stücke und zwei Opern, lautet die imponierende Bilanz dieser hyperaktiven Tage. Das bedeutet, es ist fast das gesamte Theater im Einsatz: BeleuchterInnen, SchlosserInnen, BühnentechnikerInnen, MaskenbildnerInnen und SchneiderInnen bis hin zur Souffleuse und, nicht zu vergessen, SchauspielerInnen und ein ganzer Chor. Wann geht er, Seeling nach Hause? Bleibt noch Zeit für ein Leben außerhalb des Theaters?

„In den letzten vierzehn Tagen hatte ich keinen freien Tag mehr. Das geht fast allen so, die unter –überwiegend künstlerische Tätigkeit– laufen. Schauspieler und Regisseure machen eh Überstunden. Aber für die Mehrzahl der 480 Angestellten des Theaters, gelten andere Bedingungen, genau geregelte tarifliche Bestimmungen. “

Wie wird diese Hyperaktivität im Bauch des Theaters umgesetzt? „Zur Zeit haben sich 600 Überstunden auf dem Konto der Abteilung angesammelt.“ Trotzdem steht Fereydoun Parsanejad, Meister des Malersaals, voll hinter dem Powerprogramm des neuen Intendanten. „Bei Heyme blieben uns ja die Zuschauer weg, das ist das Traurigste, was es im Theater geben kann.“ Kummer machen ihm heute eher Entscheidungsschwankungen der Bühnenbildner. „Dreimal haben wir die Wände für den Othello umstreichen müssen. Herr Willikens ist ja Maler und kann vielleicht nicht wissen, wie seine Entwürfe im Licht der Bühnenscheinwerfer aussehen. Künstler sind immer dann egoistisch und kreativ, wenn man es am wenigsten erwartet. Damit ist am Theater zu rechnen, zum Glück. Dennoch ist auch hier Organisation alles.“

Auch der Technische Direktor plant weit voraus: „Dreieinhalb Monate vor der Premiere sind bereits die Entwürfe fürs Bühnenbild da, die Dekoration ist dann sechs Wochen vorher fertig und zwei Wochen vor der Premiere steht alles bis zur technischen Einrichtung auf der Hauptbühne bereit. Wir haben bis zu den Ferien fünf Produktionen fast fertig gehabt und auf Eis gelegt.“

Jetzt müssen Shakespeare und die Jelinek in die Mikrowelle. Beim Aufwärmen allerdings kann es Überraschungen geben. So wurde erst 10 Tage vor der Premiere eine Umbesetzung für die Hauptfigur „Herr Paul“ beschlossen, die jetzt Ursula Karusseit spielt und sich mittlerweile brillant in einen häßlichen alten Mann verwandelt hat. „Da war keine Zeit mehr, eine Herrenperücke zu knüpfen. Die Verwandlung braucht rabiatere Mittel.“ Der Chefmaskenbildner Rabi Akil sah sich mit einer Herausforderung konfrontiert. „Herr Paul“ kommt mit Glatze auf die Bühne; die elegante feminine Nase wird zu einem grobschlächtigen Riechorgan umgeklebt, und darüber hinaus bekommt die Schauspielerin noch eine Zahnprothese verpaßt.

Richtig stolz ist der Tüftler Akil Rabi auf seine Verfremdung. Und so versöhnt mit dem Saisonbeginn, daß ihn die neueste Schreckensnachricht, daß beide Volontärinnen schwanger sind und folglich nur mehr bedingt einzusetztbar sind, kaum noch aufregt.

Unten im Zuschauerraum blättert das Publikum lässig im Programmheft und hält die Vielfalt der Stücke möglicherweise schon für selbstverständlich. Dabei muß dies alles mit einem um zwei Millionen gekürzten Etat bewerkstelligt werden. Aber vielleicht macht es gerade den Reiz des Illusionsapparates aus, daß die Trennung von Schein und Sein aufrecht erhalten bleibt und keiner hinter die Kulissen schauen darf. Susanne Raubold