: „Diese Straße hat kein Leben“
Walter Momper kommt wieder, aber vier Jahre nach der von ihm zu verantwortenden Räumung liegt die Mainzer Straße noch immer im Koma / Hinter den sanierten Fassaden wird ums Überleben gekämpft ■ Von Kathi Seefeld
„Plötzlich war der Westen da. Nein, nicht so, wie wir ihn erträumt hatten, sondern so, wie er uns von den Feiern zum 1. Mai in Kreuzberg über die Bildschirme präsentiert worden war.“ Der Ladenbesitzer an der Ecke tätschelt sein apricotfarbenes Hündchen. Genau gesehen habe er alles. „Tagelang brannte die Luft. Wasserwerfer, Tränengas, Steinehagel und Barrikaden auf der anderen Seite. Ich stand da und war einfach nur wütend.“ Keine sechs Wochen nach der deutschen Einheit lag die Friedrichshainer Mainzer Straße in Schutt und Asche. Zwölf Häuser hatten Polizei und BGS geräumt. Das Geschäft, das der Mann im Dezember 1990 eröffnen wollte, war zu Bruch gegangen. Wochen später ließ er sich auf der anderen, inzwischen sanierten Seite der Straße nieder.
Das Leben in der Mainzer Straße dümpelt im Herbst 94 so dahin. Einen Obst- und Gemüseladen gibt es, der Obst- und Gemüseladen heißt. Im Musikgeschäft langweilt sich ein Punkmädchen unter Kopfhörern. An der Ecke Boxhagener sind Gewerberäume zu vermieten – Anruf genügt. Einzig die junge Frau hinter einem neuen Schaufenster ist gut gelaunt und hängt kleine Weihnachtsmänner auf.
Der heute 24jährige Frieder ist von hier vertrieben worden. Instandbesetzen hatte er gewollt. „Anfangs war es wunderbar, hier zu leben. Die DDR nach der Wende war für uns der größte Freiraum, den wir je hatten.“ Die ehemaligen Volkspolizisten hätten ihnen sogar gegen aufziehende Nazis geholfen. Die Anwohner schenkten Möbel und kamen zu den Straßenfesten. Hatte man ein Anliegen, war man zum Bezirksrat gegangen, und schon ließ sich die Sache regeln. Frieders Traum vom selbstgestalteten Leben zerbrach am 13. November. „Ich hatte nicht gedacht, daß der Westen zu solchem Polizeiterror fähig sein würde. Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich Angst haben mußte. Pure, nackte Angst.“ Da hockte er auf einem der Häuserdächer, und keine zehn Meter von ihm entfernt „grinste der Bulle mit gezückter Waffe hinter dem Schornstein hervor“. Frieder floh über die Dächer. Man würde ihn eines Tages schon noch erwischen, schrie es hinter ihm her. „In solchen Momenten denkst du: Scheiß auf die Revolution.“ Derartige Kämpfe gehörten nicht zu seinen Vorstellungen vom Dasein als Hausbesetzer. Einen Versuch gemeinschaftlichen Zusammenlebens habe er noch in der Schönhauser Allee 20/21 unternommen, bis er auch dort vertrieben wurde. „Nicht mit physischer Gewalt diesmal. Nur durch die Art und Weise, wie hier saniert wird.“ Seit einer Woche wohnt Frieder in einer kleinen Zweiraumwohnung mit Bad im Prenzlauer Berg.
Der Ladeninhaber mit dem Hündchen grübelt. „Seit die Leute nur noch in den Großmarkt fahren, habe ich viel Zeit dazu.“ Manchmal frage er sich, weshalb aus den „ordentlichen Besetzern“, die nach der Wende in die bereits zu DDR-Zeiten freigewohnten Häuser gezogen waren, „die hier viel für die älteren Bewohner taten, Einkaufshilfen organisierten, Volksküchen eröffneten“, plötzlich Kriminelle wurden. Oder inwieweit sie nur dazu gemacht wurden. Er fragt sich, ob es rechtens war, daß die Polizei all die Sachen der jungen Leute einfach aus den Fenstern werfen durfte, und er würde zu gerne wissen, was aus der Bibliothek der Besetzer geworden ist. Suchen würde er danach nicht.
In einem der Häuser der Straße hatte in den Tagen der Schlacht eine junge Frau sehr lange auf dem Balkon gestanden. Ihr Kind auf dem Arm war Protest gegen die tobende Gewalt. Die Frau ist fortgezogen. „Wie fast alle“, sagt der Hündchen-Mann. Der Balkon ist noch da. Himmelblau bröckelt die Farbe ab. Das Haus mit der Nummer 20 ist eines der wenigen, die bis heute nicht saniert wurden. „Rückübertragen“, sagt die Sprecherin der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain lieber. Im Hausflur bittet die Telekom um Verständnis, daß es mit den Anschlüssen nun doch erst 1995 klappen wird. „Da drüben, die sind auch weg“, sagt der Junge im zweiten Stock. Er würde wohl bleiben, bis die Bauarbeiten losgingen.
Am 14. November werden H. und N. Krentz in der Mainzer Straße ihren Teeladen „Teekrentzchen“ eröffnen. „Sie werden auch noch dahinterkommen, daß diese Straße kein Leben hat“, klagt der Ladenbesitzer. Pausenlos wird an allem herumgewerkelt. Viermal der Gullideckel ein- und wieder ausgebuddelt. Im Nieselregen schnauzen sich zwei Männer an, die Bäume pflanzen. Bis 1995 baut das Tiefbauamt Friedrichshain die Straße noch um. „Vielleicht, daß dann der eine oder andere doch mal von der Frankfurter Allee hier entlangschaut.“ Manchmal, wenn seine Ladentür wieder stundenlang nicht gegangen ist, schließt der Mann sie einfach zu und geht auf einen Kaffee oder auch nur auch einen Schwatz nebenan in die Apotheke. Die hat ihr Domizil im „besten Haus am Platze“. Hier könnte man inzwischen schon 2.500 Mark für eine Dreizimmer- Wohnung löhnen. „Ein Privathaus eben. Top saniert.“
Bei ihm klebten nur billige Kachelimporte aus Tschechien an den Wänden. Hals über Kopf sei hier gebaut worden, richtig Geld habe der Senat dafür wohl auch nie gehabt. „Ich denke, daß die Regierenden der frisch geeinten Stadt einfach nur Schiß hatten, im Osten so eine Art Widerstandsnest zu dulden. Das eine oder andere Haus wäre vielleicht vorstellbar gewesen, aber gleich ein ganzer Straßenzug?“ Andererseits, was da so aus Kreuzberg und anderswoher mit der Zeit gekommen sei... Der Mann ist sich nicht sicher. Er hat auch Angst. Man höre soviel über die, die jetzt in der Rigaer oder Kreuziger wohnten. Deshalb sei es besser, wenn sein Name nicht in die Zeitung käme. Schon wieder eingeschlagene Fensterscheiben könne er sich nämlich nicht leisten. Er wird pleite gehen. „Geld für zwei Monatsmieten habe ich noch, dann wird wohl Schluß sein.“
Aber geschlagen gebe er sich nicht. Eine elektronische Wegfahrsperre für Autos habe er entwickelt, sogar zum Patent angemeldet. Auf der Automobil-Ausstellung, sagt er, sei allerdings so ein Wessi aufgetaucht „mit Goldketten hier und Goldkettchen dort“. Der wäre zwar ganz wild auf die Wegfahrsperre für seinen Daimler gewesen, „doch als ich ihm sagte, daß unsere Firma in der Mainzer Straße im Osten liegt, fiel der fast in Ohnmacht. Ossis würden so was nie zustande kriegen.“
„Wissen Sie“, meint der Mann aus dem Geschäft an der Ecke, „wissen Sie, was mich aber wirklich nachdenklich stimmt? Daß dieser Politiker, der das alles mitverzapft hat, die Frechheit besitzt, Bürgermeister von Berlin werden zu wollen.“
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