: Wurzeldiagnose
■ betr.: „Liberale gegen die Vollkas ko-Mentalität“, taz vom 1. 11. 94
Endlich ist es soweit, daß das ständige Mitschwimmen der Liberalen in der Regierungsverantwortung die Quittung erhalten hat, die es verdient: Besinnung ist angesagt. Besinnung darüber, was des Staates, was des „selbstverantwortlichen“ Menschen, was der Wirtschaft ist. Das letztere Feld wird wohl, weil seit 20 Jahren total involviert, am wenigsten klar beackert. Denn bevor die Vollkasko- Mentalität bei der Bevölkerung angekommen ist, hat sie längst die großen Industrie- und Handelsunternehmen ergriffen, die sich seit Jahrzehnten direkt oder indirekt über Steuern subventionieren lassen und dazu noch Bürgschaften des Staates, der Bürgerschaft also, in Anspruch nehmen.
Daß aus der einst bürgerdemokratisch begründeten Volkspartei eine Gruppe mit Werbementalität wurde, die frei nach dem Spot „erlaubt ist, was gefällt“, die Menschen konsumversklavte und über Jahrzehnte die Demokratie aushöhlte – das bedauern bis heute alle, die das Ideal einer gegliederten Res Publica vor Augen haben. Daß es solche erwachsenen Menschen noch gibt, zeigen die über zehn Millionen Mitgliedschaften in Boden/Wasser/Luft/Verkehr/ Energie-Verbraucherinitiativen und die Abermillionen, die ihr Seelenheil suchen, weil sie im Catch- as-catch-can-Getümmmel keinen Sinn mehr sehen.
Was nützt die beste Verfassung der Welt, wenn sie in ihrer Logik von keinem mehr verstanden wird? Vielleicht müssen die Liberalen erst zu den Sprach- und Chaos-Forschern in die Schule gehen, um zu verstehen, was auf den Lebensfeldern von freier Bildung, staatlicher Regelung und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zur Unfruchtbarkeit geführt hat. Ohne Wurzeldiagnose keine neuen Sprosse oder gar Blüten! Um in die Tiefe zu kommen, müssen allerdings die Handschuhe der Leichtfertigkeit abgelegt werden, denn das Spiel stößt immer vernehmlicher an seine Grenzen. Gisela Canal, Ulm
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