: Arrogant -betr.: "Hingucken, was Sache ist" v. 7.11.94
betr.:“Hingucken, was Sache ist“ v. 7.11.
Ist es nicht arrogant, sich immer so pauschal über alle „Deutschen“ zu mokieren, die das Pech hatten, unter Hitler leben zu müssen? Offentsichtlich stellt man sich unter dessen Diktatur einen gemütlichen Debattierclub vor, in dem jeder unbehelligt seine andere Meinung sagen durfte! Da heißt es auch in diesem Artikel ganz einfach, „alle“ hätten weggeguckt! Erstens ist das eine unerhörte Frechheit gegenüber allen, die still und heimlich bedrängten Mitbürgern geholfen haben, zweitens eine arrogante Zumutung an die -allerdings feige, ängstliche, schweigende, duldende– Mehrheit, der das eigene kleine Leben so wichtig war.
Ich persönlich kannte bis 1933, als wir umziehen mußten, nur eine jüdische Familie; Vater, Mutter, Kind, lieb und be-liebt, blond und blauäugig, ich hatte einen jüdischen Klassenkameraden, und in meines Bruders Klasse Zwillinge, die sich gut behaupten konnten, und den Studienfreund meines Onkels, den wir besuchten, und wo uns das letzte mal die Nachbarn wegjagten. Nach 1934 gab es keine Juden in meinem großen Bekanntenkreis. Zufall!
Vielen ging es so. Die Anschuldigung „alle haben weggeguckt!“ ist lächerlich! Juden kannten wir nur aus den Zeitungen und aus der Hetzzeitung „Stürmer“, die überall aushing. Dabei war die ganze Hetze so sehr unglaubwürdig und perfide, daß sie nur von ganz einfältigen geglaubt werden konnte. Wir hatten aber eine Diktatur, die gefährlichste, die die Welt bis dahin kannte, und jeder hatte erbärmliche Angst um sein kleines Leben.
Es ist durchaus glaubwürdig,daß mancher wegguckte, um nicht selbst mitgenommen zu werden, und es gab auch -wie heute- Verbrechertypen, die aus Sadismus mitmachten, und es gab, besonders bei der Polizei und in der Justiz, sehr viele, die aus Karrieregründen zum Verbrecher wurden, nicht aus politischer Überzeugung. Aber die meisten hatten Angst um ihr kleines Leben. Ich meistens auch. Das würden wohl die heutigen Kritiker nicht tun!!! Sie würden offen und mutig den Schergen der Diktatur entgegentreten und als Helden bewußt für Recht und Freiheit in den Tod gehen! So edel und tapfer sind heute die Menschen!
Oh nein,das glaube ich nicht! Hat man damals gekuscht, aus Angst ums Leben, so kuscht man heute doch schon allein wegen der Karriere! Wir, das „Volk der Dichter und Denker“, sind keine Helden, sondern obrigkeitsdienernde Feiglinge, damals – und heute noch mehr, und -ich kann es vergleichen– für eine erneute politische Diktatur anfälliger als damals!
PS: Vor Hitler wurde erbittert gekämpft um politische Gedanken, Ziele, Aufgaben, – heute kämpft man nur um „fünf Prozent“ Gehaltserhöhung für das dicke Portmonnaie! Christian Eisbein
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