Demagogischer Vogel

■ Weltreise der besonderen Art: Morgen beginnen die 10. Berliner Kinderkinotage

Vom 12. bis zum 20. November finden die 10. Berliner Kinderkinotage statt. Während einer Woche zeigen acht Kinos, Alhambra im Wedding, Astra in Treptow, Bali in Zehlendorf, Graffiti in Wilmersdorf, Moviemento und York in Kreuzberg, Rio in Weißensee und Wichern-Kino in Spandau, acht ausgewählte Filme für Kinder.

„Eine Reise um die Welt in 8 Tagen“ verspricht ein dunkelroter Ballon, aus dessen Gondel ein Filmband weht. Aus Dänemark, Schweden, Frankreich, Australien, Großbritannien, der DDR, Japan, Kanada und den USA kommen die Filme. Sie erzählen Geschichten, die auch in Indien und im Orient spielen, ja sogar in Takicardie, einem Land, das in keinem Atlas gefunden wird.

In diesem seltsamen Märchenland spielt der einzige Zeichentrickfilm der Kinderkinotage. Er heißt „Der König und der Vogel“ und basiert auf dem Märchen „Die Hirtin und der Schornsteinfeger“ von Hans Christian Andersen. Davon ist nur noch wenig übriggeblieben. Zwar kommen Hirtin und Schornsteinfegerin in der Handlung noch vor, aber nicht mehr in ihrem Mittelpunkt, sondern allenfalls als dramaturgisches Objekt. Anfangs fürchtet man, einen Disney-Verschnitt zu erleben. Dann aber wird die Geschichte mehr und mehr zu einer Parabel auf das Prinzip der Unterdrückung, und sie bietet auch einen Ausweg an.

Die Hoffnung der vom König Unterdrückten richtet sich auf die Befreiung durch die Vögel. Tatsächlich ist es ein Vogel, eine Art Adler, der dem König Paroli bietet. Die Unterstützung durch einen großen Taubenschwarm hilft ihm nicht. Er wird von den Häschern des Königs gefangen und Raubtieren zum Fraß vorgeworfen. Nun mutiert der Vogel zum Demagogen. Er erzählt den Raubtieren von (im Film nicht auftauchenden) Schafherden, die der König ihnen vorenthalte. Das empört die Löwen, Tiger und Eisbären.

Sie befreien sich und dringen in das Schloß ein. Die Häscher fliehen. Auch das Volk flieht, das sich die Vögel so nicht vorgestellt hat. Der König flüchtet sich in eine Kriegsmaschine. Aber der Vogel bemächtigt sich des Steuers und zerstört das Schloß. Das Volk verschwindet hinter dem Horizont, auch dem des Films. Die Eisenkralle der Kriegsmaschine zertrümmert symbolisch den kleinen Vogelkäfig. „Wenn Papa Hand anlegt, kommt alles in Ordnung!“ verkündet der Vogel. Was bleibt, ist ein Trümmerhaufen.

Andere Filme gewähren reale Einblicke in den Zustand der Welt. Der „Shimanto-Fluß“ (Japan) schwemmt die karge Hütte weg, in der der neunjährige Atsu mit seinen Eltern und seinen Geschwistern lebt. Der harte Kampf ums tägliche Brot wird durch die Naturgewalt des Flusses vergeblich. „Matilda Bell“ (Co-Produktion zwischen Australien und Großbritannien) hingegen erlebt, wie auch ihre Eltern nach vielen Nachbarn ihre Farm aufgeben müssen.

In „King to the hill“ aus den USA sehen wir den Kampf einer arbeitslosen Familie um das letzte Obdach, eine heruntergekommene Absteige, einen Kampf, der auch den zwölfjahrigen Aaron an die Grenzen seiner Leidensfähigkeit führt. Und in dem kanadischen Film „Ganesh“ geht es um den gewaltlosen wie entschiedenen Widerstand des 15jährigen Titelhelden gegen die Machenschaften von profitgierigen Spekulanten, die der Tante das Wohnhaus wegnehmen und mit Bulldozern niederwalzen wollen. Der Gewinn, den man aus dieser Weltreise der besonderen Art ziehen kann, ist, daß eine Reihe beachtlicher Kinder-Charaktere vorgeführt wird, die sich früh zur Wehr setzen.

Die Berliner Kinderkinotage gibt es seit 1985. Immer wurden Filme gezeigt, die den Weg ins Kino nicht gefunden haben, weil kein Verleih sich ihrer anzunehmen bereit war. Immer erhielt der nach Meinung der Kinder-Zuschauer beste Film den „Rosaroten Propeller“, eine Auszeichnung, die mit einer Geldprämie von 10.000 Mark verbunden ist, die derjenige Verleiher erhält, der ebendiesen Film in sein Programm aufnimmt. Diese Förderprämie, die einen speziell für sie gemachten Film aus verschlossenen Filmbüchsen vor die Augen der zuschauenden Kinder bringen soll, ist auch in diesem Jahr ausgelobt. Ulrike Odenwald