: Ghetto in Eigenblutbehandlung
■ Internationales Jugendtheatertreffen im Schlachthof: Theater aus dem Dickicht der Städte
Düstere Vororte haben, wenn überhaupt, düstere Freizeitheime. Jugendliche versenken ihre Jugendzeit beim Kickern, gähnendes Abhängen füllt die Spielpausen.
Das muß nicht so sein, beweist das derzeit im Schlachthof stattfindende Theatertreffen von Jugendlichen. Vier Gruppen aus Brüssel, Paris, Hannover und Bremen zeigen, was sie unter Theater verstehen, und das ist hochprofessionell, witzig und tickend lebendig: Eine atemberaubende Mischung aus Rap, Breakdance, Afro-Jazz, Gesang, Choreographie, Soul und Rollenspiel. Gebündelt zu einer Art Graffiti, zu einem individuellen Tac, mit dem sie dem Grau des Molochs entfliehen.
„Es geht immer darum, die eigene Freiheit zu entdecken“, erklärt Zouzou aus der Gruppe „Mosaic“, die am Donnerstag zum Auftakt des Festivals spielte. Die 15 Jugendlichen dieser Formation, die acht Nationalitäten vereint, stammen sämtlichst aus einem Vorort Brüssels. Mosaic heißt auch das soziokulturelle Zentrum, das sich zum Ziel gesetzt hat, gefährdeten Kindern und Jugendlichen des Stadtteils eine neue Perspektive zu geben, und in dem die Jugendlichen drei- bis viermal wöchentlich trainieren. „Theater ist ein Überlebensversuch“ , sagt ihr Lehrer, und alle stimmen ihm zu. „Es ist“, ergänzt eine Elevin, „der Versuch, frei zu sein, ohne dabei die Grenzen des anderen zu verletzen. Das ist auch eine Sache des Vertrauens.“
Es geht also um viel, doch um eins erstaunlichwerweise nicht: um den Auftritt. Nicht die Aufführung eines bestimmten Stückes ist ihr Ziel, nicht die Demonstration des Könnens, sondern der Weg dahin. Das Schauspiel gilt eher dem Spiel als der Schau. Dennoch feiert ihr selbstentworfenes Stück „Utopia“ große Publikumserfolge. Die Szenen sind aus dem täglichen Leben gepflückt, ein Kaleidoskop aus Verliebtheiten, Freundschaften, Abenteuern, aber auch aus Gewalt, Rassismus und Angst vor dem Fremd-, dem Alleinsein. In höchstem Maße authentisch wirkend, weil erlebt und verarbeitet. Doch dieser Prozeß wird nie zuende sein, betonen die jungen PhilosophInnen und erklären: „Utopia ist niemals erreichbar, aber immer erstrebenswert.“ Wahrscheinlich würden „Die Illegalen“ aus Bremen zustimmen, die am Donnerstagabend ihre „Dreckigen Teller“ zeigten. Das Stück des englischen Autors Nick Whitby wurde von dem in Bremen lebenden Schauspieler und Regisseur Alvaro Solar umgearbeitet. Produziert hat er es mit deutschen und ausländischen Jugendlichen dieser Stadt. Sie spielen die Rolle illegaler Einwanderer, deren desolate Lage brutal von einem Restaurantbesitzer ausgenutzt wird.
Das Hannoveraner „Pavillon Ensemble“ vereint 30 junge Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft. Ihr Stück „Funky-Town“ enstand mit Unterstützung von Choreographen, Breakdancern, Rappern und Sprayern. „Funky-Town“ liegt im Herzen der Großstadt, die im Rhythmus zwischen Liebe und Haß pulsiert: Da ist die Pöbelei in der U-Bahn, ein Junkie auf der Straße, der Rassisten-Rap im Café und die Frage schlechthin: Was ist überhaupt Liebe?
„Streetjazz“ nennt die Gruppe ihren Stil, die heute abend um 20 Uhr zu sehen ist. „Macadam“ besteht aus sieben jungen TänzerInnen, die eine ganz eigene dynamische, ja athletische Form des Tanztheaters entwickelt haben: Eine Verschmelzung von Modern-Jazz, Afro-Jazz, Soul, Breakdance und Rap. Die in den 90ern im Pariser Vorort Montreuil gegründete Formation arbeitet mittlerweile professionell mit dem Théatre Contemporain de la Danse zusammen, einem choreographischen Zentrum in Paris.
Damit haben sie einen anderen Weg gewählt als etwa die SchauspielerInnen von Mosaic. Für alle Gruppen gleichermaßen aber gilt: Sie wurden quasi auf einem Schrotthaufen geboren, doch haben sie gelernt, das dort gefundene Material in Kunst zu verwandeln. Dora Hartmann Heute um 15 Uhr findet im Schlachthof ein öffentliches Colloquium zum Thema Jugendtheaterarbeit statt. Um 20 Uhr spielt Macadam, anschließend Tanznacht.
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