Kein Urknall. Nirgends.

■ Joachim Seyppels persönliche Geschichte der Berliner Literatur seit 1945

„Außen Marmor, innen Gips“, soll Bertolt Brecht über den Schriftsteller Rudolf Leder geurteilt haben, der bekannt ist unter dem Namen Stephan Hermlin. Viel Dichtertratsch, aber auch die Geschichte längst vergessener literarischer Einrichtungen in der Stadt erzählt der Schriftsteller Joachim Seyppel (geboren 1919) in seinem Buch „Trottoir & Asphalt. Erinnerungen an Literatur in Berlin 1945-1990“.

Seyppel hat die meisten, über die er berichtet, auch selbst gekannt: Abitur in den dreißiger Jahren in Berlin-Wilmersdorf (in einem Jahrgang mit Reich-Ranicki), Germanistikstudium während des Krieges an der Berliner Friedrich- Wilhelms-Universität, dann die „Stunde Null“, von der Seyppel sagt, daß es sie nicht gegeben habe: „Beim besten Willen kann ich mich nicht entsinnen, nach der bedingungslosen Kapitulation irgendwann das Gefühl gehabt zu haben, dem Schöpfungsgetöse eines Urknalls zu lauschen“, schreibt der Schriftsteller über die Zeit, da er in der Trümmerlandschaft Berlin als Literaturkritiker zu überleben versuchte. Hinter ihm lag die Bildungswelt aus Märchen, „Blut und Boden“, Jünger, Böhme, Hölderlin, vor ihm eine Stadt mit vier Sektoren, in der sich die politische Teilung schon früh abzeichnete.

Besonders die Russen hatten erkannt, welche Bedeutung die Förderung von Kunst und Literatur gerade wegen der desolaten Lage hatte. In der Jägerstraße in Mitte, dem Sitz des Kulturbundes, gab es Lesungen und Empfänge für die aus dem Exil heimgekehrten Dichter, für Ludwig Renn, Arnold Zweig, Anna Seghers, Bert Brecht, und dort gab es Essen ohne Lebensmittelkarten! In Schöneberg hatte sich Dr. Benn niedergelassen, Peter Suhrkamp wohnte in Zehlendorf und Günther Weisenborn in Dahlem.

Mit allen hatte Seyppel irgendwann zu tun und freilich auch mit weniger Berühmten aus der Branche. Aus dieser Perspektive schreibt der Autor so etwas wie eine private Literaturgeschichte. Wer kennt noch August Scholtis? Seyppel hält ihn als Erzähler für bedeutender als Grass. Und wer hat, außer ein paar Germanisten, je etwas von Elisabeth Langgässer gelesen, gegen die Grass, Böll und Lenz „kleinere Zähler“ seien?

Namen, Jahreszahlen und Episoden rauschen vorbei, erzählt und gewichtet nach den Vorlieben des Autors, der es wohlweislich vermeidet, sich den Anschein von Objektivität zu geben: „Ich bin sicher, daß auch in diesem Buch nicht immer allen Gerechtigkeit zugekommen ist, ja daß ungerechte Urteile gefällt wurden.“

So muß man dem einen oder anderen Urteil Seyppels nicht über Gebühr nachsinnen, sondern kann die vielen Geschichten über Kurella und Höllerer (Seyppel wirft beide in einen Topf), über die Schnell, Schnurre, Drewitz und Born mit Gewinn lesen, erfährt einiges über die historische Verlags- und Presselandschaft und viel über die „tollen sechziger Jahre“: „Was waren das für Demos von Hunderttausenden am Ku'damm oder in Neukölln, und welche Feierabendnostalgie heute und danach!“ Nostalgie freilich auch bei Seyppel, wenn er an den „Zwiebelfisch“, die „linke Stammkneipe am Savignyplatz“ denkt. Dort „traf man immer jemanden, um zu klönen, wenn man einsam war“. Damals engagierte sich der Schriftsteller als Wahlhelfer für die SEW, den West-Berliner SED-Ableger, der es sogar einmal auf beinahe fünf Prozent brachte.

Das klingt heute genauso unglaublich wie die Tatsache, daß es Seyppel noch 1973 vom Trottoir („Ku'damm“) zum Asphalt („Alexanderplatz“) zog, wo er nun bei den Sitzungen des Schriftstellerverbandes unter Kollegen saß, die er zum Großteil noch aus der Zeit vor dem Mauerbau kannte, was wieder einmal beweist: Berlin ist auch nur ein Dorf.

Hier lernte er Herbert Nachbar kennen, der schon in den siebziger Jahren seinen Verbandspräsidenten Hermann Kant als „Oberstleutnant der Stasi“ beschimpfte. Das Intermezzo im Osten war jedoch von kurzer Dauer, schon 1979 wird Seyppel als einer der „kaputten Typen“ (Dieter Noll im Neuen Deutschland) aus dem Verband ausgeschlossen und 1982 aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen, ein Schicksal, um das ihn damals viele beneideten.

Wenige Jahre später, 1989, trifft er bei einer Veranstaltung zur Rehabilitierung der damals Verstoßenen auf dieselben Leute, die 1979 für seinen Ausschluß gestimmt haben. So richtig böse kann er ihnen nicht sein, und vielleicht hängt das mit dem Wissen um die eigenen Verfehlungen und die eigene Gutgläubigkeit zusammen. „Hatte nicht“, fragt Seyppel, „dieses 20. Jahrhundert mit seinen Windungen einen Bewußtseinszustand geschaffen, dem es möglich war, die kompliziertesten Zusammenhänge zu klären und gleichzeitig immer weitere Fortschritte zu machen in der Fähigkeit, sie zu verschweigen, zu verdrängen oder überhaupt zu leugnen?“ Peter Walther

Joachim Seyppel: „Trottoir & Asphalt“. Stapp Verlag, 171 Seiten, 29,80 Mark