: „Hier ist jeder gleich“
In der südungarischen Stadt Pécs steht das erste Roma-Gymnasium der Welt / Das Ziel ist, eine Elite auszubilden, die die eigenen Interessen vertritt ■ Aus Pécs Keno Verseck
Eine Schule wie diese zu besuchen, hätte Rózsika sich gewünscht. Als sie noch ein Kind war, erzählt sie, sagte ihre Mutter einmal, sie müsse fünf Mal so viel lernen wie die anderen. Rózsika hörte auf ihre Mutter. Aber ungerecht war es doch. „Ich wußte nicht, warum es ausgerechnet mich traf. Wo war der Unterschied? Die Lehrer gaben mir eine Drei, wo ich fand, es hätte eine Zwei oder eine Eins sein müssen.“
Rózsikas Familie lebte damals in der Roma-Siedlung einer ungarischen Kleinstadt, und alle Lehrer wußten das. Als sie dreizehn war, beschlossen die Eltern, von dort wegzuziehen. „Wir hatten ein sehr schönes Haus, das meine Eltern unter Wert verkauften. Wir zogen in ein viel schlechteres Haus, dafür bezahlten wir doppelt soviel. Aber da wohnten Ungarn, und meine Mutter wollte das. Damit wir ein gutes Beispiel vor Augen haben.“
Heute arbeitet Rózsika in der südungarischen Stadt Pécs als Erzieherin am ersten Roma-Gymnasium der Welt. Es sei ein gutes Gefühl, meint sie. „Anderswo tadeln Lehrer die Roma-Kinder, wenn sie schlecht ungarisch sprechen. Hier bekommen die Kinder gute Zensuren, wenn sie unsere Sprache gut lernen.“ Sie sagt es, als könne sie es noch immer nicht ganz fassen. Und nach einer Pause: „Ja, manchmal bin ich schon stolz, daß wir diese Schule einrichten konnten. Wir Roma haben doch auch viele Werte. Ich hoffe, daß die Kinder keine ,guten Ungarn‘ werden.“
Das Roma-Gymansium, das im Februar dieses Jahres eröffnet wurde, trägt den Namen Mahatma Gandhis. Die gleichnamige Stiftung wollte damit ein Zeichen für Toleranz und friedliche Verständigung setzen. Der ehemalige Parlamentsabgeordnete der liberalen Freidemokraten und heutige Französischlehrer am Gymnasium, Tibor Derdák und Direktor János Bogdan, der selbst Rom ist, hatten im Sommer 1991 die Idee, die Schule zu gründen. Denn es müsse, so Derdák, endlich damit begonnen werden, unter den 800.000 Roma eine akademische Elite zu schaffen. Eine Elite, die im Interesse ihrer Gemeinschaft wirken könne und wolle. Es gäbe zwar viele Künstler unter den Roma in Ungarn, Musiker, Schriftsteller, Dichter, Maler und Schauspieler, aber kaum Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, Ökonomen oder Ingenieure. Und gerade von diesen wenigen hätten sich die meisten von ihrer Gemeinschaft „losgesagt“.
In zweieinhalb Jahren Vorbereitungszeit wurde das Konzept ausgearbeitet, die Finanzierung gesichert, Schule und Wohnheim gebaut. Den größten Teil der Kosten trägt mit 80 Millionen Forint (1,33 Millionen Mark) jährlich der ungarische Staat, dem diese Summe aufgrund des hohen Haushaltsdefizites nicht leicht abzuringen war. Ein dreiviertel Jahr nach der Eröffnung leidet die Schule trotzdem noch unter finanziellen Schwierigkeiten, die in erster Linie die völlig unterbezahlten Lehrer und Erzieher treffen. Vom Staat kann die Schule nicht mehr erwarten, versprochene Gelder von privaten Spendern sind ausgeblieben, der Stadtrat in Pécs hat keine Mittel.
Immerhin konnte die Stiftung hier ein preiswertes altes Gebäude erstehen und es umbauen. Der Stadtrat begrüßte die Initiative, und auch sonst hätte sich für das Gandhi-Gymnasium wohl kaum ein besserer Ort finden lassen. Pécs, das auf deutsch Fünfkirchen heißt, ist schon rein optisch die Vergangenheit als ein Miteinander verschiedener Kulturen anzusehen. Mitten in der Altstadt stehen neben christlichen Kirchen die türkische Moschee aus der Zeit der osmanischen Besatzung und die Große Synagoge. In der Umgebung, dem Komitat Baranya, welches an die serbische Wojwodina grenzt, leben außer Ungarn, die in vielen Dörfern selbst zur Minderheit gehören, traditionell Donauschwaben, Serben, Kroaten und vor allem Roma. Genauer, die Beasch-Roma. Sie nennen sich so nach ihrer Muttersprache Beasch, der ein mehrere Jahrhunderte altes Rumänisch zugrunde liegt, vermischt mit ungarischen Wörtern.
Beasch-Roma sind die meisten der zwölf- und dreizehnjährigen Kinder auf dem Gandhi-Gymnasium, aber es gibt auch einige ungarische und Roma-Kinder, die nicht zu der Gruppe der Beasch zählen. Fast alle der 55 Schüler und Schülerinnen des ersten Jahrganges kommen aus den Dörfern und Kleinstädten Süd- und Südwestungarns. Sie wohnen während der Woche im Gymnasium und können am Wochenende nach Hause fahren.
Der dreizehnjährige István Szakács ist einer der Gandhi-Schüler. Er wuchs im Dorf Babócsa nahe der jugoslawischen Grenze auf. Seine Mutter ist Näherin, sein Vater, der früher bei einem Bauunternehmen beschäftigt war, arbeitslos. Im letzten Jahr kamen Mitarbeiter der Gandhi-Stiftung nach Babócsa und wählten nach mehreren Tests und Prüfungen begabte Beasch-Kinder für das Gymnasium aus. István war dabei. Obwohl die Dorflehrer das anders sahen, wie er erzählt. „Die Lehrer sagten nichts, aber man fühlte, daß sie etwas gegen uns hatten. Hier auf dem Gymnasium find ich's besser. Es gibt es keine Unterschiede, jeder ist gleich.“
Solche Erfahrungen wie ihr Klassenkamerad István hat die dreizehnjährige Marianna Petrovics nicht gemacht. In der Dorfschule, die sie früher besuchte, seien alle Kinder gleich behandelt worden. Auch dorthin kamen Mitarbeiter der Gandhi-Stiftung. Marianna zählte in jedem Schuljahr zu den Klassenbesten, und so wurde sie in das neue Gymnasium aufgenommen. Sie ist froh darüber. In ihrem Dorf und seiner Umgebung gibt es kein Gymnasium, das sie nach dem Abschluß der Mittelschule hätte besuchen können. Wenn sie nun auf der Gandhi- Schule die 12. Klasse beendet hat, will sie sich ihren Traum erfüllen und Archäologie studieren.
Die Kinder zum Studium anzuregen, ihnen den Weg an eine Universität oder eine Fachschule zu ebnen, ist das Ziel der Gandhi-Stiftung. Dazu bedürfe es einer besonderen Schule für Roma-Kinder, meint Tibor Derdák, der Direktor. „Alle Erfahrungen haben bewiesen, daß Roma-Kinder die ungarischen Schulen vorzeitig oder mit schlechtem Abschluß verlassen und nur in den seltensten Fällen ein Gymnasium beenden. Fast alle fallen mit vierzehn, fünfzehn Jahren raus. Sei es, weil Lehrer und Mitschüler ihnen ablehnend gegenüberstehen, sei es, weil die Eltern ein lange Ausbildung nicht finanzieren können und es lieber sehen, wenn die Kinder möglichst früh arbeiten gehen. Sie werden nicht viel Geld verdienen und keine besonders guten Lebensbedinungen haben. Das gilt nicht nur für die weniger guten, sondern auch für die talentierten Kinder.“
Den Schülern ist anzumerken, welchen Schwierigkeiten sie sich schon in ihrem Alter gegenüber sehen. Viele reden nur verschämt in der Beasch-Sprache oder antworten ungarisch, obwohl sie alles verstehen. Beim Thema Rassimus lenken die meisten schnell ab, obwohl sie sicherlich ihre Erfahrungen gemacht haben. Kurz nach der Eröffnung der Schule schmierten Unbekannte an eine Wand: „Gypsy-Pension“. Einige Male seien glatzköpfige Jugendliche vor der Schule aufgetaucht, berichtet eine Erzieherin, einmal seien Kinder im Bus mit „dreckige Zigeuner“ angepöbelt worden.
Daß sich ihre Schüler nach Beendigung der Ausbildung ebenfalls von der Roma-Gemeinschaft „lossagen“, dem wollen die Mitarbeiter der Gandhi-Stiftung mit dem Unterricht am Gymnasium entgegenwirken. Neben den üblichen Fächern wird täglich die Beasch- Sprache sowie Romanes unterrichtet, die ursprüngliche Muttersprache der Roma, die mit dem indischen Sanskrit und Hindi verwandt ist. Die Kinder können einmal in der Woche den hauseigenen „Traditionsklub“ besuchen, wo sie die Tänze und Lieder der Roma üben oder lernen, auf traditionellen Musikinstrumenten zu spielen. Daneben fahren sie zu landesweiten Wettbewerben, die von Roma-Organisationen veranstaltet werden, tragen selbstverfaßte Märchen oder Gedichte vor oder machen Musik.
Trotzdem will die Stiftung, wie Tibor Derdák sagt, keine „Kultur um der Kultur selbst willen aufrechterhalten“. Sie könne nur dazu zu dienen, den Kindern einen Hintergrund zu vermitteln, der ihnen helfe, nicht die Solidarität gegenüber ihrer Gemeinschaft aufzugeben. Anna Orsós, die selbst eine Beasch-Romni ist und an der Schule die Beasch-Sprache unterrichtet, bedauert allerdings, daß nur drei der fünfzehn Lehrer selbst Roma sind. Trotz zahlreicher Ausschreibungen hat die Schule nicht mehr Roma als Mitarbeiter finden können.
„Im Unterricht bemühen wir uns, bei allen Themen, die die Roma betreffen, länger zu verweilen. In der Geschichte, in der Literatur. Das ist ja auch ein Teil der Probleme: die Ungarn kennen die Kultur und die Werte der Roma nicht, auch die Kinder wissen nicht wirklich darüber Bescheid und können sich nicht verteidigen.“
Manchmal kommt eine Roma- Gruppe und spielt den Kindern ihre Lieder vor. Oder ein Maler, der seine Bilder zeigt, ein Schriftsteller, der aus seinen Büchern liest. Oder zum Beispiel der alte Jakab Orsós. Er erzählt den Kindern aus seinem Leben. Wie er am Waldrand geboren wurde. Vom Lagerfeuer und vom Holzlöffelschnitzen. Seine Eltern gehörten zu einer Gruppe von Roma, die hölzerne Gerätschaften für den Haushalt anfertigten. Das war in den zwanziger Jahren. Später besuchte der kleine Jakab die Dorfschule. Aber er mußte sie bald verlassen. Zigeuner wurden dort nicht mehr geduldet, sondern zur Zwangsarbeit geschickt. Bevor die Deutschen sie aus Südungarn deportieren konnten, wurde Ungarn befreit.
Über die Geschichten von Waldrand und Lagerfeuer staunen die Kinder, die Berichte von Zwangsarbeit und der drohenden Deportation hören sie an, ohne sie recht zu verstehen. Sie tuscheln und kichern, so daß der Lehrer sie ermahnen muß, zuzuhören. Später, während der Freizeit, dröhnt laute Musik aus einem Zimmer. Ein paar Jungen haben eine Kassette mit Roma-Musik in ihren Recorder eingelegt, tanzen und schlagen den Rhythmus auf Blechkannen und mit Holzlöffeln. Ihr ungarischer Klassenkamerad schaut bewundernd zu, wie sie kunstvolle Luftsprünge vollführen. Dann zeigen sie ihm, wie sie auf der Blechkanne trommeln. Nach einer Weile hat er es begriffen. Einer der Roma-Jungen singt ein Lied aus Stabreimen. Einer lautet: „Und wer mich nicht leiden kann, soll doch zu den Mäusen gehn!“
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