: Die Kluft des Erschreckens
■ Arie Goral: „An der Grenzscheide: Kein Weg als Jude und Deutscher“
Eine Reihe von Beiträgen, die Arie Goral in den Sammelband An der Grenzscheide: Kein Weg als Jude und Deutscher? aufnahm, schrieb er in den 80er Jahren für die taz Hamburg. Unter anderem auch die Geschichte, wie Adolf Hitler ihm, dem Juden, das Leben gerettet hat.
Am 20. Juli 1932 ging Arie Goral in Hamburg die Colonnaden entlang zur Arbeit. Vier SA-Männer verteilten Flugblätter für eine Hitler-Kundgebung. Goral zerriß ein Flugblatt. Die Männer schlugen ihn umstandslos zusammen. Passanten und ein Polizist sahen weg. Das war Gorals Glück. Denn so haben ihn Hitlers Häscher schon 1932 für das sensibilisiert, was da noch kommen sollte. Ein Jahr später entschied sich Goral noch rechtzeitig für die Flucht nach Palästina.
Nach seiner Rückkehr nach Hamburg im Jahre 1953 krempelte Goral dann oppositionell die Ärmel hoch. Er agitierte mit Zeichenstift und Schreibmaschine, leitete die Galerie Uhu und die Intergalerie, engagierte sich gegen die Wiederbewaffnung und natürlich gegen alle Versuche, gegenüber den Verbrechen der „Endlösung“ eine kollektive Amnesie wirken zu lassen. Daß dieser Einsatz noch im hohen Alter von 85 Jahren wirkt, davon zeugt der vorliegende Band. Wenn man es denn recht versteht, gibt es kein besseres Wort zur Charakterisierung der Texte als dieses: Sie sind sperrig. Übrigens nicht nur gegen Verdrängungsmechanismen, sondern auch gegenüber philosemitischen Impulsen. Die unmittelbaren Anlässe der in dem Buch gesammelten Dokumente mögen teilweise vergangen sein. Aus ihren besten Stellen spricht eine Kraft, die anzeigt, daß die Tatsache, Jude in Deutschland zu sein, immer noch und immer wieder ein Anlaß zum Eingreifen ist. Zu erinnern ist an den Fall Hofstätter. Der liegt zwar etwas zurück: Hofstätter hatte 1963 in der liberalen Zeit anläßlich der Auschwitz-Prozesse die Judenausrottung als bloße „Kriegsfolge“ erklärt und so für eine Generalamnestie plädiert.
Aber in einem 1980 geschriebenen, jetzt in dem Band wieder publizierten Text zieht Goral aus diesem Fall eine Lehre, die im Rahmen des nicht eben unkomplizierten Verhältnisses von Linken und Juden immer noch von Interesse ist: „Für viele (Linke) wurde die Angelegenheit nur bei passender Gelegenheit zum Vehikel, wobei der Ausgangspunkt der Kontroverse, zumeist von den eigenen Interessen bestimmt, verdrängt oder umfunktioniert wurde.“ Was sich daraus lernen läßt: Man muß eben immer vorsichtig sein, wenn man – und sei es noch so wohlwollend – für andere sprechen will. Oft mengen sich ureigene Interessen hinein. Dieser Hinweis Gorals ist ernst zu nehmen.
Sein Engagement bringt Goral auf die Formel: „Ich bin Jude, weil Auschwitz war.“ Arie Goral hat sich ganz der Rolle verschrieben, die einem linken Juden in einem restaurativen Deutschland vorbehalten war. In einer BRD, die der Aufarbeitung der NS-Greuel und der Entnazifizierung versagte, war es die Rolle dessen, der zornig auf dem begangenen Unrecht beharrt.
„Ich bin Jude, weil Auschwitz war.“
Dieser Satz birgt eine Kluft, in der ein Erschrecken liegt. Weil die fabrikmäßig betriebene Judenvernichtung existierte, bezeichnet sich jemand ostentativ als Jude. Für einen Moment hält man den Atem an. Man erwischt den Zipfel einer Ahnung davon, wie sehr sich dieses Verbrechen auch in die Lebenden eingrub. Jude sein nach Auschwitz heißt verstrickt sein mit Auschwitz. Es gibt Berührungspunkte, bei denen man auch als Nichtjude Goral folgen kann, etwa wenn er von der Notwendigkeit einer „steten Auseinandersetzung in Theorie und Praxis mit den Ursachen und Voraussetzungen, die zu Auschwitz führten“, spricht. Das sollte tatsächlich ein Bezugspunkt eines jeglichen Denkens sein. In anderen Punkten muß man Goral allein lassen. So spricht er an einer Stelle selbstironisch von der Tragikomik seiner permanenten Protesthaltung, weil ihm alte oder jungalte Nazis mit den Worten auf die Schulter klopfen: „Na, immer noch auf Achse?“
Goral selbst bezeichnet diesen Band als Rechenschaftsbuch anläßlich seines 85. Geburtstages. In einem Text aus den späten 60er Jahren hat er zugleich einen Maßstab angegeben, an dem zu messen sein könnte, ob diese Rechenschaft positiv ausfällt. Er schrieb, „daß nicht große Worte beispielhaft sind für die Zukunft, kleine Taten des Alltags sind es“. Auf eine Menge solcher kleinen Taten kann Arie Goral zurückblicken. Eine Reihe davon sind in dem vorliegenden Band dokumentiert.
Dirk Knipphals
Arie Goral, „An der Grenzscheide...“, Lit-Verlag
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