: Bakterien - sozial brisant
■ Hygieniker warnen vor Verschlechterung der Wohnsituation: Infektionen und Allergien nehmen drastisch zu / Während Läuse nur lästig sind, bergen Krankheiten ernste Gefahren
Infektionen und Allergien nehmen in bedrohlichem Maße zu. Diese nüchterne Analyse ist für Professor Henning Rüden sozialpolitisch hoch brisant. Der Direktor des Instituts für Hygiene der Freien Universität Berlin befürchtet, daß schon bald schwere Krankheiten in großen Zahlen auftreten können. Diese wären seiner Ansicht nach sozialer Sprengstoff, den die Gesellschaft nicht ohne weiteres verkraften könnte.
„Wir schimpfen uns ein Land, das einen hohen Zivilisationsgrad hat“, spottet der Institutsdirektor, dabei würden aber zunehmend die Randgruppen der Gesellschaft vergessen, „und die werden größer“. Immer mehr Menschen seien unverschuldet gezwungen, mit vielen anderen Personen auf engstem Raum zusammen zu wohnen. Hans Nisblé, seit gestern Bürgermeister in Wedding, setzt noch eins drauf: „Es werden zunehmend Menschen in die Obdachlosigkeit gedrängt.“ Der Zustand in den Notunterkünften sei oft „menschenunwürdig“.
Die städtischen Einrichtungen nimmt Nisblé dabei aus, „aber die sind ohnehin hoffnungslos überfüllt“. Mit einigen Billigpensionen wollten deren Betreiber „nur das schnelle Geld machen. Der Begriff ,Läusepension‘ kommt nicht von ungefähr“, meint der bisherige Sozialstadtrat. „Läuse, Kakerlaken und Krätze erwarten die Gäste“, beschreiben Betroffene im Straßenmagazin platte die Situation in den Unterkünften: „In manchen Pensionen ziehen es die Bewohner nach einer Nacht vor, auf der Straße zu schlafen.“
Die Kopflaus feiert ihr großes Comeback
Doch es sind keineswegs nur Obdachlose betroffen. Rüden befürchtet, daß der hygienische Standard in Wohnungen für sozial Schwächere insgesamt sinkt. Ungeziefer wird angelockt und findet ein Milieu, in dem es sich einnisten kann. Daß dadurch zum Beispiel die Kopflaus ihr Comeback selbst im Spiegel feiern durfte, hält er für verhältnismäßig harmlos: „Läuse sind nur lästig, manche Krankheiten aber gefährlich.“
„Die Leute werden zusammengepfercht“, so Rüden, die hygienischen Verhältnisse scheinen keinen zu kümmern. Küchen und Badezimmer seien oftmals stark von Schimmel befallen.
„Das ist ein gesellschaftspolitischer Skandal erster Ordnung“, schimpft Rüden. Die Menschen seien immer mehr Krankheitserregern ausgesetzt, denen sie immer weniger entgegenzusetzen hätten. Bestandteile der Schimmelpilze würden eingeatmet, was gerade dann gefährlich sei, wenn die Abwehrkräfte ohnehin durch unausgewogene Ernährung geschwächt seien. Folgen: „Allergische Reaktionen, die Schleimhäute schwellen an, Dauerschnupfen oder sogar Tuberkulose.“ Die Gefahren dieser Krankheit seien nicht zu unterschätzen, da Antibiotika nicht mehr unbedingt helfen (s. unten).
Langfristig ist für Rüden der soziale Wohnungsbau der einzige Ausweg: „Menschenwürdiger Wohnraum muß bezahlbar sein“, das ist für ihn keineswegs nur sozialer Anspruch, sondern aus medizinischer Sicht unerläßlich. Gerade in diesem Bereich zu sparen hält er auch aus wirtschaftlichen Erwägungen für kurzsichtig. „Wenn immer mehr Menschen erkranken, die die Kosten ihrer Krankheit ohnehin nicht selbst finanzieren können, zahlen wir doch sowieso wieder alle.“
Zudem warnt er eindringlich vor dem sozialen Sprengstoff, den Krankheiten von Menschen bergen, die in vergammelten Wohnungen leben müssen. „Wenn die sehen, daß andere ganz viel haben, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die sich zusammenschließen.“ Weddings Bürgermeister Nisblé gibt ihm recht: „Der soziale Friede ist gefährdet. Wer so hausen muß, der meldet sich vom demokratischen Staat ab.“ Die Mietenexplosion in Berlin laufe parallel zur steigenden Arbeitslosigkeit, in Wedding sind es 15 Prozent. „Erst zahlen die Leute ihre Stromrechnung nicht mehr, dann die Miete“, beschreibt er den „Strudel, aus dem die meisten allein nicht mehr herauskommen“.
Senat muß bezahlbaren Wohnraum bereitstellen
Die Sozialämter arbeiteten daher eng mit den Gerichten zusammen, wenn eine Räumung drohe, so Nisblé. „Gerade wenn Kinder dabei sind, müssen wir notfalls die Wohnung beschlagnahmen, damit die Familie weiter dort wohnen kann und nicht in ein Heim muß.“ Denn davon gibt es seiner Meinung nach viel zu wenige. Der Senat sei also gefordert, zum einen der Mietenexplosion entgegenzuwirken, zum anderen genug „menschenwürdige Notunterkünfte“ bereitzustellen. Christian Arns
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