piwik no script img

Mit Kastner war die Diaspora angeklagt

■ Gespräch mit dem israelischen Journalisten Tom Segev, der die Rolle der zionistischen Staatsgründer neu debattieren will

taz: Worin lag Ihrer Meinung nach damals, 1953, die Bedeutung des Kastner-Prozesses?

Tom Segev: Der Holocaust war damals in Israel ein Tabu, ein bißchen wie in Deutschland. Eltern sprachen nicht mit ihren Kindern, Kinder trauten sich nicht zu fragen. Es war ein Schlagabtausch von Vorwürfen: Warum habt ihr nicht auf uns Zionisten gehört und seid früher gekommen, warum gab es nicht mehr Widerstand, warum habt ihr uns nicht geholfen? Die Überlebenden waren zurückgekommen und manche wollten sprechen, aber niemand wollte sie hören, zum Teil, weil man annahm, wer überlebt hatte, konnte nur ein Schurke gewesen sein – das war wie ein zweites Trauma. Es ist schon verblüffend: das erste Mal, daß dieses Schweigen durchbrochen wurde, geschah es auf diese pervertierte Art und Weise während des Kastner-Prozesses. Das erste, womit Israelis konfrontiert waren, war: Worin bestand die Schuld der Juden, worin bestand die Schuld der jüdischen Führer? Man konfrontierte nicht den Holocaust, sondern öffnete eine zweite Wunde. Die Überlebenden wurden plötzlich zu Angeklagten, schlicht, weil sie überlebt hatten. Will man den Kreis noch weiter ziehen, kann man sagen: vor Gericht stand die Diaspora, angeklagt von den Israelis. Deshalb war der Kastner-Prozeß mehr die Fortsetzung der Tragödie als eine Auseinandersetzung damit.

Er hatte natürlich auch eine politische Dimension: Der Anwalt von Grünbaum, Schmuel Tamir, interessierte sich nicht für den Holocaust, er wollte die sozialistische Ben-Gurion-Regierung schädigen, der vorgeworfen wurde, mit den Deutschen und den englischen Besatzern Israels während des Krieges kollaboriert und sich nur für die Rettung derjenigen eingesetzt zu haben, die sie wählen würden (also den Mittelstand aufgegeben zu haben). Er wollte auch selbst Premier werden. Das Interessante ist, daß Jahre später Tamir selbst ein Kastner wurde, als er mit den Arabern über den Gefangenenaustausch wegen eines gekidnappten israelischen Soldaten verhandelte. Natürlich ging es gerade in jenen Jahren auch um Verhandlungen mit Deutschland wegen der „Wiedergutmachungszahlungen“.

Was war – in der öffentlichen Wirkung – der Unterschied zum Eichmann-Prozeß?

Der Unterschied war eben, daß der Kastner-Prozeß die Überlebenden zu Schuldigen machte, während der Eichmann-Prozeß ihnen das erste Mal Gelegenheit gab, öffentlich über ihre Erfahrungen zu reden.

Damals, so scheint es, war die Stimmung eher gegen Kastner. Wie sieht es heute aus, was bedeutet der Prozeß heute?

Daß die Frage, inwieweit man mit seinem Feind verhandeln und dabei Kompromisse eingehen darf, gerade jetzt aufkommt, ist kein Wunder. Arafat wurde noch vor zwei Jahren als Hitler bezeichnet, jetzt schüttelt man seine Hand. Im Fundament der israelischen Gesellschaft gräbt sich etwas um. Über Jahrzehnte war „Holocaust“ immer automatisch mit „Heldentum“ assoziiert; jetzt sind wir selbstsicher genug, um uns auch mit Menschen wie Kastner zu befassen, der eine ungeheuer schwere, entsetzliche Entscheidung zu treffen hatte. Die Erfahrungen im Golfkrieg, als wir mit Gasmasken unter unseren Küchentischen saßen, das hatte etwas von der Ghetto-Erfahrung an sich. Israelis fangen jetzt an, sich für die jüdische Geschichte, für das Jiddischland in Polen zu interessieren, statt diese Vergangenheit immer nur für düster und beschämend zu halten. Es gibt auch eine Gruppe neuer Historiker, die in Armee- Archiven stöbern, die jetzt erst geöffnet werden wegen der Sperrfrist, besonders bei Armeeunterlagen, von dreißig oder vierzig Jahren. Da habe ich einiges gefunden, was ich in der Schule anders gelernt habe, was anders in unsere nationale Mythologie eingegangen ist. Allgemein wird eben auch nicht nur die Rolle der Judenräte, sondern auch die der Zionisten neu bewertet.

Welche Rolle spielte Avnerys Wochenzeitschrift „Haolam Hazeh“ während des Prozesses?

Ich habe sie damals als Schuljunge immer unter der Bank gelesen; sie war regimekritisch und leicht pornographisch. Avnery vertrat die Position des „echten“ Israelis, (obwohl auch er aus Deutschland eingewandert war); er vertrat, was wir „kanaanitisch“ nennen, er sprach für die Generation, die im Unabhängigkeitskrieg 1948 gekämpft hatte, hebräische Jugendlichkeit, kraftvoll, rebellisch – mit uns hätte man das nicht machen können! Er stand völlig auf der Seite des Staatsanwalts Tamir. Wir treten jetzt immer wie zwei Clowns zusammen in den Talk-Shows auf.

Was, glauben Sie, könnte das Interesse der Deutschen am Fall Kastner und an Ihrem Buch* sein?

Naja, die Deutschen suchten einen guten Deutschen und einen bösen Juden – Schindler und Kastner gehören zusammen. Ich arbeite zur Zeit an einem Film über all diese Dinge mit dem ZDF; Sie können sich nicht vorstellen, wie vorsichtig die sind. Sie wollen auf gar keinen Fall irgend etwas senden, was nicht Wort für Wort von Israel abgesegnet ist. Ich selbst habe natürlich auch Angst, in Deutschland von den falschen Leuten benutzt zu werden. Ich werde sehr vorsichtig sein.

Der ehemalige SS-Mann Kurt Becher übrigens, für den Kastner damals in Nürnberg ausgesagt hat, lebt heute noch in Bremen und schweigt seit Jahren beharrlich. Es kursieren allerhand Gerüchte darüber, wo das Geld geblieben ist, das er damals von den ungarischen Juden erhalten hat, und was er mit der israelischen Regierung auch nach dem Krieg noch zu tun hatte. Der Fall Kastner ist noch nicht abgeschlossen.

Das Gespräch führte Mariam Niroumand

*Die deutsche Übersetzung von „The Seventh Million“ wird im April bei Rowohlt erscheinen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen