: Herr der 35 Stimmen
■ Thomas Hengelbrock wird künstlerischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen
Thomas Hengelbrock stellt „einen Anspruch in radikaler Weise“, will „den kreativen Musiker stimulieren“, steht „keinesfalls da und zerteilt den Takt“: damit trifft der Dirigent auf das seiner Meinung nach „vielseitigste und interessanteste Orchester in Deutschland“, die seit drei Jahren in Bremen ansässige Deutsche Kammerphilharmonie. Hengelbrock wird zunächst einmal für die nächsten drei Jahre künstlerischer Leiter des Orchesters, das damit rein formal seine ursprüngliche basisdemokratische Konzeption – für jedes Projekt wurde ein anderer DirigentIn gewonnen – aufkündigt.
Thomas Hengelbrock, der sich jetzt in einer Pressekonferenz vorstellte, ist allerdings einer, der diese Konzeption nicht nur akzeptiert, sondern auch nur noch in einer solchen arbeiten will. „Die normalen Orchester- und Opernstrukturen halte ich für vollkommen überholt. Die Krise ist nicht nur finanziell, sie ist inhaltlich: wir decken in den Orchesterrepertoires und Spielplänen eine Zeitspanne von höchstens 200 Jahren ab in immergleichen und unspezifischen Interpretationen“.
Mit der Verpflichtung von Thomas Hengelbrock glaubt das Orchester, sozusagen die Quadratur des Kreises zu schaffen, die Basisdemokratie und die künstlerische Leitung unter einen Hut zu kriegen, „ich bin kein Diktator, sondern ein Teamer, es geht nicht um eine Meinung, sondern um dreißig oder fünfunddreißig“: das ist das Angebot des Dirgenten.
Wollen wirs hoffen, daß es so kommt, denn mit ihm ist in der Tat eine nicht nur eine hochqualifizierte, sondern auch eine in bestem Sinne dynamische künstlerische Persönlichkeit gewonnen worden. Zusammen mit der Vergabe der Hochschulprofessur für Dirigieren an Martin Fischer-Dieskau sind damit zwei Dirigenten fest an die Stadt gebunden, von denen die unsägliche Findungskommission für den neuen Generalmusikdirektor des Bremer Theaters offensichtlich noch nicht einaml mehr träumen kann.
Der gebürtige Wilhelmshavener Thomas Hengelbrock, ehemaliger Konzertmeister der Jungen Deutschen Philharmonie, Gründungsmitglied und künstlerischer Leiter des Freiburger Barockorchesters, das er auch nicht aufgeben wird, präzisierte seine interpretatorischen Vorstellungen: er will die Musik aller Epochen in der „Sprache der Zeit machen, und da müssen wir sehr viele Sprachen lernen“. Das beeinhaltet auch interne Experimentierphasen und Workshops, das beeinhaltet die Beschäftigung mit alten Instrumenten, aber, so Matthias Beltinger vom Orchester, „wenns quietscht und pfeift, werden wir nicht öffentlich spielen“.
Für das Programm der Saison 94/95, das ein ganz normales philharmonisches Programm ist und weder besondere Ideen noch Innovation aufweist, ist Hengelbrock noch nicht verantwortlich, aber auch da sei „noch einiges flexibel“.
Projekte Neuer Musik halten sich weiterhin in Grenzen: zwar sollen Kompositionsaufträge vergeben werden, jährlich Uraufführungen stattfinden, aber Musik, die auch neue Spieltechniken verlangt, ist darin nur in Ansätzen zu finden. So ist also, wenn die Fusion mit der Leitung, der Basisdemokratie und dem Management mit den dahinter stehenden Sponsoren – hier vor allem Lürssen und Vulkan – wirklich klappt, eine schärfere Profilierung der interpretatorischen Ansätze, aber doch innerhalb eines gängigen Repertoires zu erwarten. Die Agentur hat „keine Kompetenz und keinen Einfluß“, so Hermann Pölking-Eigen, aber eine entschiedenen Willen, ein „Ostkurvenpublikum“ zu erreichen, d.h. eins, das mit dem Orchester durch dick und dünn geht. Es sind also nicht nur dreißig Meinungen, sondern auch vier massive Interessen. Zwei Musiker waren nicht mehr der Meinung, daß dies alles noch miteinander geht: sie haben das Orchester verlassen.
Ute Schalz-Laurenze
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