■ Daumenkino: Ossessione
Zu den wichtigsten Gerüchten, die über den italienischen Neorealismus kursieren, gehört die Vorstellung, er sei besonders neo und besonders realistisch gewesen – eine Vorstellung, die wenig verblüfft, wenn man bedenkt, wovon er abgesetzt werden sollte: den Schmachtfetzen des Faschismus mit ihren ungarischen Operetten und den vielzitierten weißen Telephonen. Tatsächlich wäre der Neorealismus nie zustande gekommen, wenn sich seine wichtigsten Regisseure nicht schon in Vittorio Mussolinis Cinecittà hätten vorbereiten können. Rossellini, dessen Rom, offene Stadt offiziell immer als der erste neorealistische Film gilt, hatte für die faschistische Regierung Propagandafilme wie „Ein Pilot kehrt zurück“ gedreht, für den übrigens Antonioni das Script geschrieben hatte. „Neo“ war das, was danach kam, auch deshalb nicht, weil es ohne die französischen „poetischen Realisten“ und die Lektüre amerikanischer Romanciers nicht gegangen wäre. Letzterer verdankt sich der Film, der eigentlich den Auftakt machte und der nun wieder in die Kinos kommt: Ossessione entstand, nachdem Luchino Visconti James M. Cains „The Postman Always Rings Twice“ gelesen und in die Po-Ebene transformiert hatte. Man merkt, daß Visconti auch Camus mit Cain gekreuzt hat, und so ist schwer zu entscheiden, warum Vittorio Mussolini aus der Premiere lief und „Das ist nicht Italien“ brüllte – wegen der ins hoffnungslos Leere laufenden Zielgeraden des Films oder der bloßen, sehnsüchtigen Männerkörper, die einmal sehr, sehr dicht beeinanderliegen. mn
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