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Ein Vierteljahrhundert soziales Lernen

Berliner Gesamtschulen blicken auf 25 Jahre Praxis zurück / Auf viele Kinderkrankheiten in anonymen Massenbetrieben folgten zahlreiche Reformen / „Leistung steht an zweiter Stelle“ / Keine Neugründungen  ■ Von Jeannette Goddar

Nicht nur die APO-Rebellen kommen in die Jahre – auch ihre Errungenschaften feiern Jubiläen, die ein Erinnern an die Gründerjahre wert sind. Auf ein Vierteljahrhundert Gesamtschulen blickt heute der Berliner Gesamtschultag an der Mildred-Harnack-Oberschule in Lichtenberg zurück. Morgen feiert die Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschulen GGG in der Weddinger Willy-Brandt- Oberschule ihr 25jähriges Bestehen. Die Walter-Gropius- Schule in Britz war die erste Gesamtschule in Berlin. Ihr folgten bis heute 79 weitere, von denen 51 erst nach dem Mauerfall im Ostteil gegründet wurden. Damit wird knapp jeder dritte Berliner Oberschüler an einer Schule unterrichtet, an der „soziales Lernen“ vor Leistung geht.

Ende der sechziger Jahre wollten die GGG-Gründer alles anders machen. In der Debatte um die Einführung einer „Förderstufe“ in den Klassen fünf und sechs, die Kindern und Eltern mehr Zeit geben sollte, sich für Haupt-, Realschule oder Gymnasium zu entscheiden, wurden immer mehr Stimmen laut, die die Dreiteilung des Schulsystems in Frage stellten. Sollte es nicht möglich sein, alle Schüler in einer Schule entsprechend ihrer Kompetenz in den jeweiligen Fächern zu fördern? Statt getrennter Klassen sollten aber nur in den „harten Fächern“ wie Deutsch und Mathe, Fremdsprachen und Naturwissenschaften Kurse mit unterschiedlichen Niveaus eingerichtet werden. Dort sollten „gute“ und „schlechte“ nicht nur miteinander, sondern auch voneinander lernen. Gymnasien waren unter den linksalternativen Bildungsköpfen als Elite-Institutionen verschrien.

Was folgte, war ein Schultyp mit vielen Kinderkrankheiten. Vielerorten wurde der Klassenverband vollständig aufgelöst und monströse Lehrbetriebe mit unterschiedlichsten Kursdifferenzierungen eingeführt. Nicht selten lernten oder schlurten an Gesamtschulen über 1.500 Schüler oft unbemerkt von den Lehrern, von denen sich ohnehin keiner den Namen des anderen merken konnte. Anonymität und Verwahrlosung der Schüler sowie der oft neu errichteten Mammutgebäude waren die Folge und prägten ein Klischee, das sich bis heute hartnäckig hält: Da lernt man nix, jeder macht, was er will, Hausaufgaben gibt es nicht. Wer was werden will, muß aufs Gymnasium!

Viele Gesamtschulen haben aus ihren Kinderkrankheiten gelernt. „Wir haben angesichts der Massenbetriebe vor 15 Jahren versucht, eine Gesamtschule neuen Typs zu machen“, erzählt Anna Schrickel, Lehrerin an der Hector- Peterson-Oberschule in Kreuzberg. Dort werden lediglich 480 Schüler, von denen die Hälfte Kinder aus Einwandererfamilien sind, in Klassen unterrichtet. Der Klassenverband wird nur bei einem Teil der Stunden aufgehoben. Die Lehrer unterrichten „im Team“, das heißt, immer sechs bis acht sind über vier Jahre für einen Jahrgang zuständig. Viel Zeit wird darauf verwandt, den Kindern kooperatives Lernen beizubringen. „Leistung rangiert bei uns erst an zweiter Stelle. Wenn man Leistung aber an erste Stelle setzt, ist der Ertrag nicht unbedingt größer, der Frust aber bestimmt.“ Viele Lehrer anderer Schultypen sind diesem Ansatz gegenüber nach wie vor skeptisch.

„Grundschullehrer warnen heute noch vor Gesamtschulen“, weiß Christine Lehnhoff vom Landeselternausschuß (LEA) zu berichten. Aus Protest habe sie ihre Kinder zur Gesamtschule geschickt und es nicht bereut. Die Offenheit der Schule habe ihnen den Streß des Probehalbjahres in der 7. Klasse des Gymnasiums, zu Beginn der Pubertät, erspart. „Auf der Gesamtschule können sie unterschiedliche Neigungen vertiefen.“ Nicht nur im Untericht: Zu den Kursen gesellen sich zahlreiche Arbeitsgemeinschaften. An 47 der 80 Gesamtschulen in Berlin können Kinder so ganztags betreut werden.

Andere halten das Ideal des „sozialen Lernens“ kooperativer Schüler für illusorisch. Das Konzept gehe „an der Lebenswirklichkeit vorbei“, konstatiert Oberstudienrat Rainer Werner, ehemaliger Gesamtschullehrer. Außerdem sei es sehr schwer möglich, mit sehr guten und sehr schlechten Schülern gleichzeitig zu arbeiten. Oft könne sich der Lehrer weder um die einen noch um die anderen angemessen kümmern. Tatsächlich ist das Argument der „nicht- adäquaten“ Ausbildung bei Eltern von potentiellen Gymnasiasten wie Hauptschülern dasselbe. Viele Eltern von Kindern mit Hauptschulempfehlung meiden inzwischen Gesamtschulen, weil sie glauben, daß ihr Kind an einer überschaubaren Hauptschule spezieller gefördert wird.

Damit verbauen sich allerdings auch einige einen höheren Schulabschluß. „Bei uns hat das beste Abi im Jahrgang einer gemacht, der 'ne Empfehlung für die Hauptschule hatte“, erzählt Rouzbeh Taberi, der bis zum Frühjahr Vorsitzender des Landesschülerausschusses war. Auch wenn die Gesamtschule nicht ideal sei, habe sie enorme Vorteile: „Ich war froh, daß ich mich später entscheiden konnte, ob ich Abi mache oder nicht, und differenziert lernen konnte.“ Bei seinem Volkswirtschafts- und Wirtschaftsinformatik-Studium erscheint ihm seine Ausbildung nicht als nachteilig: „Ich habe eher das Gefühl, daß ich mehr gelernt habe als andere.“ 1993 sprach sich die Berliner Landesschülerkonferenz dafür aus, die Gesamtschule als einzigen Schultyp neben der Grundschule zu etablieren.

Das würde auch ein einheitlicheres Niveau in den Bezirken schaffen: Denn während einige Schulen tatsächlich die ideale Drittelung von Haupt- und Realschülern und Gymnasiasten erreicht haben, sind viele Gesamtschulen ohne gymnasiale Oberstufe „getarnte Hauptschulen“, an denen das Niveau aufgrund des immer schlechter werdenden Images stetig sinkt.

Von seiten der Senatsschulverwaltung ist an einen weiteren Ausbau der Berliner Gesamtschulen nicht gedacht. Die Forderung der LSK, die von Teilen der GEW mitgetragen wird, sei eine „Gängelung derer, die eine bestimmte Schule bevorzugen“, erklärte Michael Behr, persönlicher Referent von Schulsenator Jürgen Klemann (CDU). Der Bedarf an Gesamtschulplätzen sei gedeckt. Im Gegenteil sei nicht auszuschließen, daß in Ostberlin einige Gesamtschulen in den kommenden Jahren umgewandelt würden.

Dort war die Nachfrage nach Gesamtschulplätzen nach dem Mauerfall sehr hoch, weil diese sich weniger von dem DDR-Oberschulsystem unterschied als das dreigliedrige Schulsystem. Inzwischen wollen aber auch im Ostteil immer mehr Eltern ihre Kinder auf ein klassisches Gymnasium überweisen.

Im Westteil hat immerhin seit diesem Schuljahr auch der letzte Bezirk eine Gesamtschule eröffnet: Auch Zehlendorfer Kinder können jetzt „sozial lernen“. Hierfür mußte allerdings jahrelang gekämpft werden. Der Bezirk Zehlendorf benötige keine Gesamtschule, hieß es immer wieder von seiten des Bezirksamtes. Schließlich setzten die Eltern sich durch, und die Nachfrage gab ihnen recht: Über 100 Kinder mußten abgewiesen werden, obwohl traditionell achtzig Prozent der Zehlendorfer Eltern für ihre Kinder das Abitur wollen.

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